Mannheim – Die Industrie-, Arbeiter- und Zuwandererstadt

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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Autor: Ulrich Nieß

Der Text von Ulrich Nieß erschien unter dem Titel „Mannheim – Die Industrie-, Arbeiter- und Zuwandererstadt“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Hinführung: Mannheim – „Wir sind Patent“

In der Regel alle zwei Jahre fährt von Mannheim aus eine Oldtimerparade nach Pforzheim. Die Bertha-Benz-Gedächtnisfahrt erinnert an eine couragierte Frau, die mit ihrer Aktion der automobilen Zukunft ein Stück weit auf die Sprünge half. 1888 war Bertha Benz mit ihren beiden Söhnen Richard und Eugen nach Pforzheim aufgebrochen. Einen ganzen Tag waren die drei unterwegs, ehe abends der nichtsahnende Ehemann Carl per Telegramm über die gute Ankunft informiert wurde. Vielfach ist darüber geschrieben und zur Mythenbildung um die Erfindung des Automobils beigetragen worden. Eigentlich wollte Bertha Benz nur ihrem Mann Mut machen, ihm die Alltagstüchtigkeit des Automobils beweisen, damit er sich bereitfand, seine Erfindung auf einer Ausstellung in München vorzuführen. Heute würden wir das Ganze vielleicht als geniale PR-Aktion verbuchen.

Berthas Gatte war ohnehin mehr Ingenieur denn Verkaufsgenie und in kaufmännischen Dingen nicht immer geschickt. Umso hartnäckiger aber hatte er an der Umsetzung seiner Idee gearbeitet; zunächst in einer kleinen Werkstatt, im damals noch weitgehend unbebauten Quadrat T 6, nicht weit vom Innenstadtring. Hier glückte Carl etwas, woran auch andernorts Ingenieure arbeiteten: der Bau eines „pferdelosen Motorwagens“. Die Idee war eigentlich nicht sonderlich revolutionär. Benz wollte einen Viertaktmotor konstruieren, der nicht mehr nur rein stationär eingesetzt werden konnte, sondern sich auch zur mobilen Fortbewegung eignen sollte.

Das Ergebnis war ein Motor, der gegenüber den Konkurrenzprodukten eines Nikolaus Otto oder Gottlieb Daimler im Leistungsvermögen eher abfiel. Aber dieser Motor half Benz, den ersten fahrbaren Wagen mit Verbrennungsmotor, ein „Motorveloziped“, zu schaffen, wozu wir heute nur noch schlicht Auto(-mobil) sagen. Vom 29. Januar 1886 datiert die Patentschrift von Carl Benz, die gemeinhin als Geburtsschein des Automobils gilt und Mannheims heutige Marketingspezialisten zu dem doppelsinnigen Werbeausspruch inspiriert hat: „Wir sind Patent.“

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Symbolkräfte und Identitätsbildung

Unweit der Benz’schen Werkstatt im Mannheimer Quadrat T 6 nahm just zu dieser Zeit das heutige Wahrzeichen Mannheims allmählich Gestalt an: Der Wasserturm, 1885 in einem Wettbewerb ausgeschrieben, wurde am 12. August 1889 der Öffentlichkeit übergeben. Damit konnte die Stadt endlich ihren Bürgern auch eine moderne Wasserversorgung garantieren. Für Spötter unserer Tage ist diese Koinzidenz bezeichnend: Die Mannheimer lernten erst Autofahren, ehe sie sich komfortabel waschen konnten. Der neobarocke Wasserturm ebenso wie die Fabriken prägen bis heute das Image der Rhein-Neckar-Stadt. Und dies obwohl auch in Mannheim inzwischen weit mehr Menschen im Dienstleistungsgewerbe als in den Industrieunternehmen beschäftigt sind. Aber in Mannheims Stadtgeschichte und im Stadtbild begegnen sich der Wasserturm wie die Fabriken, vergangener Kurfürstenglanz und früheres Arbeiterelend, Freigeist und Toleranz auf engstem Raum, ja man könnte fast von einer sehr eigenwilligen Symbiose sprechen.

Als Erinnerungsort für barocke Sinnesfreuden taugt dabei die Stadt jedoch kaum, obwohl sie durchaus einige architektonisch herausragende Barockbauten zu bieten hat: neben dem mächtigen Schloss vor allem die imposante Jesuitenkirche in A 2 nebst Sternwarte oder das Zeughaus in C 5. Und schließlich hielt sich der junge Mozart 176 Tage in der Stadt auf – aber er fand kein dauerhaftes Engagement am Fürstenhof, immerhin jedoch die Frau fürs Leben. Aber das reicht nicht, um ihn zum Erinnerungsmythos zu stilisieren, weil er die Stadt alsbald wieder verließ und er nur von Kennern seiner Biografie mit ihr assoziiert wird.

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Identifikation und Selbstwertgefühl

Womit aber identifiziert sich die Stadt selbst? Das Eigenbild oszilliert mitunter zwischen euphorischem Weltstadtanspruch und tiefer Larmoyanz. Vielleicht liegt Letzteres daran, dass es für keine Stadt so ganz befriedigend ist, wenn sie immer nur auf dem zweiten Platz rangiert oder ihr die Genies wie eben Mozart oder auch Schiller wieder den Rücken kehrten: Mannheim ist die zweitgrößte Stadt in Baden-Württemberg, hat eines der größten Barockschlösser in Europa, den zweitgrößten Binnenhafen in Deutschland usw. Insofern muss man es den Mannheimern nachsehen, wenn sie unisono und völlig zu Recht betonen, dass in ihrer Stadt und nicht in Stuttgart das erste Automobil erfunden und gefahren wurde. Da mögen die Herren Gottlieb Daimler und sein kongenialer Konstrukteur Wilhelm Maybach mit ihrer Motorenkutsche technikhistorisch gesehen fast zeitgleich etwas Bedeutendes ersonnen haben – Carl Benz aber hat als Erster das Auto mit Benzinantrieb gebaut und wehe dem, der andernorts etwas anderes behauptet.

Heftig geht es daher immer dann zur Sache, wenn in Mannheim das Gefühl um sich greift, die Stadt, ihre Bedeutung und ihr Erfindungsreichtum würden kleingeredet. So kam binnen kürzester Zeit eine umfangreiche Unterschriftenliste zustande, als die Lokalzeitung unter dem Slogan „Kein Daimler ohne Benz“ forderte, der Daimlerkonzern müsse nach seiner Trennung von Chrysler wieder zum Traditionsnamen Daimler-Benz zurückkehren – ein Ansinnen, über das sich die Stuttgarter Konzernzentrale dann doch zum großen Leidwesen der Mannheimer hinwegsetzte.

Fraglos, die Menschen der Quadratestadt legen viel Wert darauf, dass ihre Stadt als Hort technisch-industrieller Innovation respektiert wird und sie haben daher auch kein Problem damit, in die Nähe des schmucken Wasserturms ein eher kühl-sachlich gehaltenes Benzdenkmal zu setzen. Und obwohl seit Jahrzehnten in Mannheim kein Pkw mehr produziert wird, geht man bis heute „zum Benz“, wenn man in diesem hoch modernen Omnibus- und Motoren-Produktionswerk arbeitet.

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Das „Zweite Goldene Zeitalter“

Wasserturm und Benz-Automobile stehen symbolhaft für eine Periode der Mannheimer Stadtgeschichte, die Historiker unserer Tage gerne mit dem Etikett des "Zweiten Goldenen Zeitalters" versehen. Der Begriff „Erstes Goldenes Zeitalter“ hebt auf den Glanz der Residenzzeit ab, als die Kurfürsten der Pfalz ab 1720 das riesige Barockschloss erbauen ließen und die Mannheimer Schule Musikgeschichte schrieb.

Diesem Glanz folgte nach Ende der kurpfälzischen Herrschaft 1802 eine Phase der Stagnation, ehe dann der Vorbote eines neuen Freiheitsgeistes durch die rechtwinklig angeordneten Straßenzeilen zog und Intellektuelle wie Handwerker und Arbeiter gleichermaßen erfasste. Es kennzeichnet die Geschichte Mannheims im 19. Jahrhundert, dass sie weder allein vom Bürgertum noch von der Arbeiterbewegung her definiert und verstanden werden kann. Beides traf hier früh zusammen, bildete auf mannigfache Art und Weise ein Zweckbündnis. Wurzeln und Traditionen entstanden, auf die sich beide Gruppierungen einigen konnten – eben auch in der Niederlage.

Diese war etwa in der Umbruchzeit von 1802 sehr bitter: Der drohenden politischen Marginalisierung innerhalb des badischen Staats konnten die Mannheimer Bürger noch mit Ideenreichtum, einem allmählich florierenden Handel und ersten Fabrikgründungen entgegenwirken. Ihre politische Führungsrolle wurde dann sogar tonangebend in der Revolution von 1848/49. Der zum Mythos verklärte Friedrich Hecker, Gustav Struve, Friedrich Daniel Bassermann oder Alexander von Soiron gehörten zur ersten Garde jener Revolutionszeiten.

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Geburtsstadt der demokratischen Arbeiterbewegung

Mannheim galt als eines der Zentren im Vormärz und in der Revolution. Und ebenso kann man Mannheim als Geburtsstadt der demokratischen Arbeiterbewegung begreifen, wurde hier doch 1844 – und damit ausgesprochen früh in Deutschland – ein Arbeiterverein gegründet, der sich der Weiterbildung verschrieb. Sein Vereinslokal hatte er bis zu seinem Verbot 1847 im Alt-Mannheimer Lokal des „Kleinen Mayerhöfel“. Im Hinterzimmer sollen die Bilder der ehemaligen Revolutionäre und ehemaligen Förderer Friedrich Hecker und Gustav Struve gehangen haben.

Der „Kartätschenprinz“ Wilhelm, der nachmalige erste Kaiser des Deutschen Reichs, hatte 1849 zwar der Badischen Revolution ein gewaltsames Ende bereitet. Aber diese Niederlage legte gleichsam den Grundstein für eine gemeinsam geteilte Erinnerung von Bürgertum und Arbeiterschaft. Mochte man sich in der Revolutionszeit auch in einem gemäßigten und radikalen Flügel zerrieben haben, der badische Aufstand, der zur Legende verklärte Kampf, wurde als gemeinsames Erbe verstanden. Eine ganze Reihe der damaligen Protagonisten sollte später wieder in führende gesellschaftliche Positionen aufsteigen. Wie sehr sich alle Gruppierungen dieser Zeit um jenes gemeinsame Erbe bemühten, beweist das am 13. September 1874 feierlich enthüllte „Denkmal der Gestandrechteten“.

 Der Obelisk aus französischem Kalkstein erinnert an die fünf standrechtlich Erschossenen von 1849. Diese geteilte Erfahrung der frühen Arbeiterbewegung und des Bürgertums mag mit ein Grund dafür sein, dass in Mannheim bei allen Klassengegensätzen wechselseitiger Respekt und auf vielen Gebieten frühe Formen der partiellen politischen Zusammenarbeit maßgebend waren. In der Zeit vor 1914 eroberten die Sozialdemokraten trotz der Benachteiligungen im kommunalen Zensuswahlrecht sukzessive die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung und partizipierten, wenn auch nicht völlig gleichberechtigt, an der politischen Macht. Dies trug zu der für den Südwesten so charakteristischen Ausbildung eines reformistischen Flügels der Sozialdemokratie bei, was auf der badischen Landesebene im „Großblock“ aus Nationalliberalen, Linksliberalen, Demokraten und Sozialdemokraten ab 1905 sichtbar wurde.

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Dossier: Die Revolution 1848/1849 in Baden und Württemberg

Die Deutsche Revolution nahm in Baden ihren Anfang – und endete hier. Als erste revolutionäre Aktion in Deutschland gilt die Mannheimer Volksversammlung am 27. Februar 1848. Das Ende der Revolution ist die Niederlage der badischen Revolutionsarmee in der Festung Rastatt am 23. Juli 1849. Wie kam es zur Revolution? Und warum scheiterte sie? Diese Seite informiert über die Revolution in Baden, den Verlauf der Badischen Revolution und die Wege der Revolutionäre.

Dossier: Die Badische Revolution

Drais, Benz und Lanz: führend im Bereich der Mobilität

Ein gemeinsames politisches Erbe ist der eine Baustein, dem ein anderer noch hinzugefügt werden muss: die technischen Erfindungen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Mobilität: das Zweirad des Herrn von Drais ab 1817, der Lanz-Bulldog – Prototyp des Traktors mit Rohölantrieb – ab 1921, der Omnibus von Carl Benz ab 1895, vor allem aber dessen automobiles Dreirad von 1885/86. Jenes erste Gefährt mit benzinbetriebenem Verbrennungsmotor stellt den Urtypus dar für heute weltweit fast eine Milliarde Fahrzeuge.

Bis heute ist das Benz-Werk in Mannheim der größte Arbeitgeber mit knapp 9000 Beschäftigten. Auf dem fast 900 000 Quadratmeter großen Firmengelände werden Nutzfahrzeugmotoren gefertigt, Stadt- und Überlandbusse montiert, Gussprodukte in einer hochmodernen Gießerei hergestellt und abgasarme Motortechnik erforscht. Dabei sind rund 3500 Mitarbeiter in der sogenannten Motorenfabrik und rund 5500 Mitarbeiter bei EvoBus im Omnibusbau tätig.

Die Automobil-Abteilung der Benz-Werke befindet sich seit 1908 auf dem Luzenberg, ganz in der Nähe des Industriehafens. Die Übersiedlung in unmittelbare Nachbarschaft zu dem 1900 in Betrieb genommenen Gaswerk und dem 1907 offiziell eröffneten Industriehafen bot der „Benz & Cie. Rheinische Gasmotorenfabrik AG“ ideale Bedingungen zur Expansion, waren doch die Jahre kurz vor dem Ersten Weltkrieg durch immense Steigerungsraten in Produktion und Beschäftigung gekennzeichnet.

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Gezielte städtische Industriepolitik

Der Bau des Industriehafens ab 1895 war indes eine städtische Pioniertat, der Weg in eine gezielte städtische Wirtschaftsförderung, um den bereits in Gang befindlichen Strukturwandel von der Handels- zur Industriestadt zu beschleunigen und zugleich eine Antwort auf die Schiffbarmachung des Oberrheins zu geben, die Mannheims Funktion als südlicher Endpunkt der Großschifffahrt bedrohte. Den jungen, expandierenden Industrieunternehmen sollte ein attraktives Areal mit wasser- und schienennahen Grundstücken außerhalb der Innenstadt zur Verfügung gestellt werden. Einer der frühesten Förderer von Carl Benz, der Unternehmer und Stadtverordnete Max Rose, brachte es 1895 bei der Diskussion um die immensen Kosten des Industriehafens auf den Punkt. Dieser werde, so Rose, „für spätere Geschlechter einen Merkstein bilden […] für den heute an maßgebenden Stellen herrschenden Scharfblick für die wichtigsten Lebensinteressen unserer Stadt“.

Roses prophetische Worte rühmen zu Recht den Wagemut der Stadtspitze um Oberbürgermeister Otto Beck, der seit 1892 mit immenser Tatkraft die städtische Entwicklung vorantrieb. Neben dem Bau des Industriehafens standen auch die sukzessive Eingemeindung der Nachbarorte sowie eine durchdachte Energie- und Verkehrspolitik im Dienste einer städtischen Industrieansiedlungspolitik. So gelang am 5. Juli 1898 ein bemerkenswerter „Deal“: Bau und Betrieb des neuen Elektrizitätswerks wurden an die Firma Brown, Boveri & Cie. (BBC) vergeben, die wiederum die Übersiedlung ihrer Frankfurter Produktionsstätte nach Mannheim mit anfänglich mindestens 500 Arbeitsplätzen zusicherte. Bereits Ende 1904 waren im neuen BBC-Werk in Käfertal 1350 Personen beschäftigt, 1914 gar 3000, so dass dieses Werk zu den größten Betrieben der Stadt avancierte. Bei Benz strömten damals zeitweise über 5000 Arbeiter täglich durch die Werktore – die wenigsten davon stammten aus Mannheim.

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Zuwanderung

Erst aus dem Odenwald …

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebten in der Industriestadt Mannheim 226 700 Menschen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Stadt lediglich 25 000 Einwohner, bei der Reichsgründung 1871 wurden auch erst 39 620 Personen gezählt. Mannheim gehörte damit zu den Städten im Deutschen Reich, die ein weit überproportionales Bevölkerungswachstum aufweisen konnten. Mehr als die Hälfte dieses raschen Wachstums war der Zuwanderung, etwa ein Drittel dem Geburtenüberschuss und der Rest weitgehend den Eingemeindungen geschuldet. Letztere dienten vorzugsweise der Expansion in der Fläche – das Mannheimer Gemarkungsgebiet vervierfachte sich zwischen 1892 und 1913 –, um dort Fabriken und Arbeitersiedlungen errichten zu können, während die eigentliche City und die sie umgebenden nahen Stadtgebiete mit ihrer engmaschigen Straßenstruktur größeren Unternehmen keinen Platz mehr boten.

Die starke Zuwanderung bedingte eine im Durchschnitt sehr junge Bevölkerung mit deutlichem Männerüberschuss (112 : 100). Da in der Kernstadt eine oft wohlhabende Bevölkerung lebte, die Dienstmädchen Arbeit bot, und insgesamt eine vielfältige Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur entstand, in der auch Fabrikarbeiterinnen benötigt wurden, etwa in den Tabak- und Jutefabriken, kamen auch nicht wenige Frauen überwiegend aus dem ländlichen Nahbereich nach Mannheim.

Das Gros der neuen sich ansiedelnden Arbeiterschaft stammte offenbar aus den umliegenden, meist ländlichen Regionen, etwa aus dem Odenwald. So konstatierte Friedrich Metz in seiner Untersuchung über das badische Bauland 1919: „Es wohnen heute in Mannheim mehr Leute aus dem Amte Buchen als in diesem Amte selbst.“

… dann aus dem Ausland

Die konjunkturelle Dynamik führte schon frühzeitig eine nennenswerte Zahl an ausländischen Kräften nach Mannheim, die zum überwiegenden Teil auf ihrer Wanderschaft die örtlichen Werke aufsuchten und meist für nur wenige Monate Beschäftigung suchten und auch fanden. Wohl der prominenteste Name unter den ausländischen Wander- und Saisonarbeitern war ein gewisser Josip Broz, der für wenige Monate 1911 bei Benz anheuerte. Besser bekannt ist Josef Broz unter seinem Namenszusatz Tito. Als Staatspräsident regierte er bis zu seinem Tod 1980 Jugoslawien mit harter Hand als sozialistisches Gesellschaftssystem. Wie viele frühe „Gastarbeiter“ in den Industriewerken vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Mannheim gearbeitet haben, lässt sich nur schwer statistisch fassen, da die Meldedaten nur zum Teil und unvollständig vorliegen.

Von der in Mannheim-Sandhofen 1898 gegründeten Jutespinnerei ist beispielsweise bekannt, dass sie frühzeitig um ausländische Kräfte, zumeist Frauen warb, so dass zeitweise mehr als die Hälfte der Beschäftigten Ausländer waren. Schon 1899 wurde der Zugang von 300 Italienern, 80 Böhmen und Tschechen sowie 100 Polen registriert, und auch in den folgenden Jahren wurden immer wieder italienische Saisonarbeiterinnen angeworben.

Wirft man etwa für die Jahre 1911 bis 1913 einen Blick in das „Reichsausländerbuch“ von Rheinau – dieser südlich von Mannheim liegende Ort wurde zum 1. Januar 1913 eingemeindet –, so kann man feststellen, dass hier bereits 487 ausländische Wanderarbeiter, darunter 345 Italiener gemeldet waren. Rheinau hatte zu jener Zeit eine ortsansässige Bevölkerung von 4200 Personen. Die Ausländer dürften größtenteils in den verschiedenen Industriewerken, etwa bei der Seifenproduktion in der Sunlight GmbH oder in der Deutschen Zündholzfabrik, oder beim Ausbau der Hafenanlagen – 1913 wurde das letzte Becken fertiggestellt – Arbeit gefunden haben.

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Die „rote Hochburg“

Diese Wanderarbeiter, vor allem aber auch die ortsansässig gewordenen Zuwanderer, organisierten sich in wachsender Zahl und begründeten Mannheims Ruf als „rote Hochburg“. Bereits Tito abonnierte das Nachfolgeblatt der einst vom Mannheimer Reichstagsabgeordneten Ludwig Frank ins Leben gerufenen Jugendzeitung der SPD. Und Tito diskutierte auch gerne mit Exilrussen, die teilweise an der Mannheimer Ingenieurschule eingeschrieben waren und sich als Bakunisten oder Anarchisten verstanden.

In den 1920er- und 1930er-Jahren ebbte der Zustrom von Wanderarbeitern wieder ab. In der Automobilbranche etwa brachen die Produktionszahlen mit der Hyperinflation 1923 drastisch ein, so dass nur noch wenige hundert Beschäftigte auf dem Luzenberg arbeiteten. Die Fusion von Daimler und Benz 1924/26 war damals lebensnotwendig für beide Unternehmen, um im Wettbewerb zu bestehen.

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Die Auswirkungen der NS-Zeit auf Mannheim

Den eigentlichen dramatischen Einschnitt aber bildete auch in der Stadtgeschichte Mannheims die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten. Am 6. Februar 1933 hatten sie stolz als Schlagzeile in der parteieigenen Tageszeitung verkündetet: „Die rote Hochburg Mannheim ein Trümmerhaufen!“ Dieser Trümmerhaufen wurde im Zweiten Weltkrieg dann traurige Realität, trotz des tapferen, größtenteils von kommunistischen Arbeiterfunktionären in Mannheim organisierten Widerstands, der zahlreiche (Todes-)Opfer forderte. Zwar wurde der Arbeiterwiderstand meist nur sehr verdeckt in den Betrieben fortgesetzt und zumeist wurden private Unterkünfte für konspirative Treffen gewählt, aber in den großen Fabriken der Metallindustrie wie „beim Benz“ signalisierte allein schon die massive Abgabe ungültiger Stimmzettel bei den Vertrauensmännerwahlen 1934 und 1935, dass die ehedem organisierten Arbeiter keineswegs die neuen Machthaber und die Zerschlagung ihrer Gewerkschaften ohne stillen Protest hinzunehmen gedachten. Den moralischen Bankrott indes konnten auch solche Aktionen nicht verhindern.

Diese spiegelt sich auch in den traurigen, über 1000 Seelen zählenden, zerlumpten Gestalten wider, die ab Herbst 1944 als KZ-Insassen in Mannheim „beim Benz“ arbeiten mussten, nachdem zuvor bereits, wie in vielen Industrieunternehmen, ausländische Zwangs- und Fremdarbeiter sowie Kriegsgefangene in der Produktion eingesetzt worden waren. Nicht viele dieser polnischen KZ-Häftlinge beim Benz-Werk haben die Strapazen der Haft und die weitere Deportation in den späteren „Todesmärschen“ überlebt. Erst in den 1980er-Jahren wurde ihres Schicksals angemessen gedacht und eine Gedenkstätte eingerichtet, die seit Jahren auf die tatkräftige Unterstützung der Daimler AG zählen darf.

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Die Anwerbung von „Gastarbeitern“

Nach dem Ende des Kriegs und den dann einsetzenden Wirtschaftswunderjahren sollte ein neuer Zustrom an ausländischen Beschäftigten mit der „Gastarbeiter“-Welle auf der Grundlage binationaler Anwerbeabkommen ab Mitte der 1950er-Jahre auch Mannheim erreichen. Aus heutiger Sicht fast ein wenig skurril mutet dabei die massive Anwerbung von Jugoslawen 1968 für die Benz-Werke an. Nach der scharfen Rezession 1966/67 mussten 2000 Arbeiter „beim Benz“ entlassen werden. Da die Konjunktur gleich wieder ansprang, der Mannheimer Arbeitsmarkt aber leergefegt war, entschloss sich die Konzernleitung im Benehmen mit dem Betriebsrat und den örtlichen Behörden, Mitarbeiter nach Jugoslawien zu entsenden, die dort 1000 Arbeiter gewinnen sollten. Basis hierfür bot das von der Bundesregierung gerade erst abgeschlossene Anwerbeabkommen mit dem südslawischen Völkerstaat.

 Die Anwerbung konzentrierte sich auf die Stadt Zagreb sowie die Orte südlich der dalmatischen Hafenstadt Rijeka und auf Bosnien. Im Oktober 1968 traf die erste Gruppe von 80 Personen in Mannheim ein; im Februar 1969 folgte ein Konvoi aus sieben Bussen mit rund 350 „Jugos“, wie die neuen Kollegen oft genannt wurden. Bereits 1971 arbeiteten neben diesen 1000 Landsleuten Titos weitere 700 Personen aus 25 Nationen „beim Benz“ in Mannheim-Luzenberg. Ab Mitte der 1970er- Jahren waren dann die Türken die größte Ausländergruppe im Betrieb.

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Streik und Tarifkämpfe

Gewerkschaftlich waren 1971 nicht weniger als 97 Prozent aller „Benzler“ organisiert, als im Herbst einer der längsten Streiks in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte begann. Fast drei Wochen dauerte der hart geführte Arbeitskampf, der von Arbeitgeberseite – ähnlich wie beim großen Streik im Mai 1963 – mit dem Instrument der Generalaussperrung beantwortet wurde. Bei beiden Arbeitskämpfen legten jeweils zehntausende Beschäftigte im Stadt- und Landkreis Mannheim die Arbeit nieder.

Wann immer es zu großen Arbeitskämpfen in der Metallindustrie nach 1945 kam, war stets Mannheim ein Zentrum der Auseinandersetzung. Denn im Tarifbezirk Nordwürttemberg- Nordbaden wurden durchgängig die Tarifkämpfe für die gesamte deutsche Metallindustrie ausgetragen, weil, so die gewerkschaftsinterne Argumentation, der nordbadische Raum sehr streikerfahren und auch stets streikbereit sei, eine hohe Firmendichte und einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweise und die Lahmlegung der Betriebe die gesamte Branche am empfindlichsten treffe. Begleitet von hoher medialer Aufmerksamkeit standen so die großen Mannheimer Fabrikwerke oft im Fokus der Berichterstattung, vor allem bei den hart von Streik und Aussperrung begleiteten Arbeitskämpfen der 1970er- und 1980er- Jahre, als es nicht ausschließlich um Lohnforderungen, sondern auch um die „Humanisierung der Arbeit“ ging, etwa um die Abschaffung stupider Arbeitsprozesse oder den Einstieg in die 35-Stunden-Woche.

Dabei hatten nach 1945 zunächst weniger Lohnforderungen als vielmehr schlichte Mangelerscheinungen zu den ersten Warnstreiks geführt. So im Frühsommer 1947, als infolge der katastrophalen Ernährungslage die Arbeiter mit der Parole „Wir können nicht mehr“ die versprochenen, aber nicht zugeteilten Lebensmittelrationen beklagten. Die später zu „Jahren der schönen Not“ verklärten Zeiten waren politisch in den Betrieben von einem starken, meist kommunistisch oder sozialdemokratisch dominierten Betriebsrat geprägt. Dass bei allen klassenkämpferischen Parolen in der Sache weitgehend pragmatisch verhandelt wurde und Arbeitnehmerinteressen durchgesetzt werden konnten, kennzeichnet jene Jahre in den Industriebetrieben.

„Beim Benz“ ging die Ära der kommunistischen Betriebsratsvorsitzenden erst 1964 mit der Wahl von Herbert Lucy (1929– 1994), dem späteren Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von Daimler-Benz, zu Ende. Lucy und sein Betriebsratsnachfolger Karl Feuerstein (1940–1999) engagierten sich für die SPD über Jahrzehnte auch im Kreisverband und im Gemeinderat. Ihrem Einfluss war es auch geschuldet, dass mit dem bei der BBC ausgebildeten Starkstromelektriker und Ingenieur Gerhard Widder 1983 in Mannheim ein Oberbürgermeister gewählt wurde, der seit frühester Kindheit in der Arbeiterbewegung verwurzelt war. Bis 2007 führte er als Oberbürgermeister die Geschicke der Stadt und ging mit der längsten Amtszeit als Rekordhalter unter den Bürgermeistern in die Geschichte Mannheims ein.

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Industrieller Strukturwandel und das Vertrauen auf Innovation und Migration

In der Ära Widder setzte sich der fundamentale wirtschaftliche Strukturwandel weiter fort. Schon in den 1970er- und beginnenden 1980er-Jahren hatte es spektakuläre Firmenschließungen gegeben, darunter die der Rheinischen Gummiund Celluloid-Fabrik mit ihren legendären Schildkröt-Puppen. Ein Rückgang an Arbeitsplätzen bei den großen produzierenden Unternehmen, auch in der Metallindustrie, prägte lange das Bild. Niemand kann sicher sagen, ob weiterer Stellenabbau im verarbeitenden Gewerbe noch folgen wird oder ob die Unternehmen als industrielle Kernbetriebe wieder stärker expandieren werden. Immerhin hängen noch ein Viertel aller Arbeitsplätze in Mannheim direkt vom verarbeitenden Gewerbe (ohne Bauindustrie) ab.

In naher wie wohl auch in ferner Zukunft werden die Industrieunternehmen Mannheims Gesicht mitprägen. Auch deshalb ist die Stadt gut beraten, ihrer Tradition entsprechend, auf Zuwanderung zu setzen. Schon heute besitzen 63000 Menschen in Mannheim einen ausländischen Pass, sind rund 160 Nationen vertreten und weisen fast ein Drittel aller Stadtbewohner einen Migrationshintergrund auf. Darin liegen Herausforderungen wie Chancen. Mannheim versteht sich als tolerante, weltoffene Stadt mit einem breiten kulturellen Angebot und hofft, dass innovative Entwicklungen die Schlüssel für eine positive Zukunft sein werden, um voller Stolz der Welt verkünden zu können: „Wir sind Patent.“

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Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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