Bildungsreich: Baden-Württemberg als Universitätslandschaft

Die Universität ist ein mehrdimensionaler Erinnerungsort. Studierende, deren Eltern, Professoren, die Politik, die Wirtschaft oder wer auch immer teilen Perspektiven und Erfahrungen in verschieden großen Schnittmengen, in die sich über Jahrhunderte hinweg kollektive Vorstellungen, Muster, Bilder und Ideale eingelagert haben. Seit Humboldts Bildungsreform genießen Universitäten höchstes Ansehen als Stätten der Bildung und des wissenschaftlichen Fortschritts, der durch Forschung gesichert wird.

Universitäten gelten als Instanz der Sozialisation, Charakterprägung und Selbstfindung für junge Menschen jenseits des Schulzwangs. Ihrem Wesen nach sind sie weniger regionale, als vielmehr internationale oder weltumspannende Einrichtungen, die sich in Lehre, Forschung und Weiterbildung internationalen Standards der akademischen Öffentlichkeit verpflichtet wissen. In Deutschland sind Universitäten fast ausschließlich aus öffentlichen Mitteln finanzierte Einrichtungen der Länder, in deren Hoheit sie fallen.

Autor: Michael Stolle

Der Text von Michael Stolle erschien unter dem Titel „Bildungsreich – Baden-Württemberg als Universitätslandschaft“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Eine der reichsten und vielfältigsten Hochschullandschaften der Welt

In Baden-Württemberg wird eine besondere Erinnerung an die Universitäten des Landes gepflegt, die sich ihrerseits eng mit ihren staatlichen Förderern verbunden fühlen. Viele Universitäten heißen nach ihren landesherrlichen Gründern: Albert-Ludwigs-Universität, Fridericiana, Ruprecht-Karls-Universität und Eberhard Karls Universität. Man schaut im „Ländle“ auf eine besonders lange Tradition von Universitäten zurück, deren Erfolg sich wieder zuletzt im Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder gezeigt hat. Baden- Württemberg gehört mit seinen neun staatlichen Universitäten zu den vielfältigsten und reichsten Hochschulregionen weltweit. Sie reicht von Heidelberg (gegründet 1386), der ältesten Universität im außerösterreichischen Deutschland, über die kaum weniger altehrwürdigen Universitäten Freiburg (1457) und Tübingen (1477), der ältesten deutschen Technischen Hochschule in Karlsruhe (1825) und dem etwas jüngeren Pendant in Stuttgart (1829), bis zu den Gründungen der Bildungs- und Reformoffensive Konstanz (1966) und Ulm (1967).

Zugleich stehen mit Hohenheim (1818) und Mannheim (1911) zwei weitere Universitäten zur Seite, die sich – zunächst als Fach-Hochschulen gegründet – in ausgewählten Schwerpunkten profiliert haben: Hohenheim in den Bereichen Landwirtschaft und Biologie, Ernährung und Gesundheit, Mannheim bei den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Private Universitäten mit vergleichsweise wenigen Studierenden sind wesentlich jünger – sie gibt es mittlerweile in Bruchsal, Friedrichshafen, Heidelberg, Lahr, Stuttgart und Weilheim. Daneben existieren 71 Fachhochschulen und Berufsakademien (seit 2009 in „Duale Hochschule Baden-Württemberg“ umbenannt) – so viele wie in keinem anderen deutschen Land.

Jede Universität in Baden und Württemberg hat sich unabhängig von den Schicksalen der anderen entwickelt und dabei eine eigene Identität, ein eigenes Profil, ein eigenes Selbstverständnis angenommen. Was sie verbindet sind parallele Ereignisse, Entwicklungen und Erfordernisse, sind gemeinsame Rahmenbedingungen und Strukturen. All das hat zusammengenommen jene virtuelle Landschaft geschaffen, in der sich sammelt, was die Menschen über Jahrhunderte hinweg von der Universität erhofft und gewünscht, was sie durch sie erfahren und erlebt haben, worin sie von ihr enttäuscht oder bestärkt worden sind.

Das Studium – Mythos und Realität

An den neun staatlichen Universitäten studierten im Wintersemester 2009/10 142512 Personen. Zum Vergleich: 1932 waren in Baden 9082, in Württemberg 5625 Studenten eingeschrieben. 1954/55 waren es im neuen Bundesland Baden-Württemberg bereits 23387 Studenten, 1972/73 dann 74105 Studenten. 1970 gab es erst eine Universität, in der mehr als 10000 Personen studierten: Tübingen. Heute studieren in Freiburg, Heidelberg, Tübingen, Stuttgart und Karlsruhe jeweils mehr als 20000 Personen.

Damit einher geht die stetige Zunahme der sogenannten Studienberechtigtenquote. In Baden-Württemberg macht inzwischen jeder Zweite das Abitur. Noch Mitte der 1980er-Jahre bildeten die Akademiker (mit Fachhochschul- und Hochschulabschluss) in der Gesellschaft Baden-Württembergs eine Minderheit (1987: 6,5 %). Selbst in den Führungsetagen großer Weltkonzerne waren Akademiker lange Zeit noch eine kleine Gruppe. Seit mehr als zwei Jahrzehnten findet jedoch ein drastischer Wandel statt. Die Expertenkultur und die viel beschworene Wissensgesellschaft lassen die Ansprüche nach akademisch gebildeten Menschen steigen. Die zu beobachtende Verwissenschaftlichung der Berufe erhöht die Attraktivität von Universitäten immer weiter. 1990 besuchten deutschlandweit etwa 20 Prozent eines Jahrgangs die Universität, heute sind es 46 Prozent.

Eine "Zeit des geöffneten Ventils" ?

Angesichts dieser Zahlen scheint ein mit „Universität“ verbundener Erinnerungsstrang heute fast ein Mythos zu sein. Studieren galt als die Zeit großer akademischer Freiheit, nicht nur zum Forschen und Lernen. In den frühen Überlieferungen der Universität Freiburg beispielsweise finden sich zahlreiche Beschwerden über nächtlichen Unfug, laute Bordellbesuche oder übermäßigen Weingenuss. Ein Studium war die Zeit des Lebens in sexueller Zwanglosigkeit und geografischer Freizügigkeit, eine „Zeit des geöffneten Ventils“ (Hans-Ulrich Wehler), in der alle Triebe ohne ernsthafte Strafen ausgelebt werden durften, ehe der Ernst des Berufslebens, die Zwänge der bürgerlichen Familie und die staatliche Ordnung ihren Tribut forderten. Eine hedonistisch verbrämte Renaissance erlebte dieses Bild vom zwanglosen Studium in den 1970er-Jahren, in denen es beispielsweise in Heidelberg oder Freiburg kaum ein Semester gab, in dem nicht diskutiert, demonstriert und gestreikt, aber auch geprügelt und prozessiert wurde. Überbleibsel dieses Erinnerungsklischees oder – im Falle der Proteste der „Studentenrevolution“ auch des Traumas – finden sich heute nur noch bei den sogenannten Orientierungsphasen, während deren Studienanfänger von fortgeschrittenen Studierenden über den Campus gelenkt und zu gruppendynamischen Aufgaben und Initiationsriten angeleitet werden, die nicht selten in einem großen Saufgelage und öffentlichem Gegröle enden.

Die Realität war häufig anders. Es sind dies die Erinnerungsbilder des Studierens in größter Existenznot, die heute vor allem im Zusammenhang der Diskussion um Studiengebühren bedient werden. Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre lag der Lebensstandard der Studenten nachweislich unter demjenigen der ungelernten Arbeiter. Der „Werkstudent“ wurde zum neuen Erscheinungsbild, der während des Studiums, vor allem aber in den Vorlesungspausen, seinen Lebensunterhalt verdienen muss. Auch heute geht jeder zweite Student einer Erwerbstätigkeit nach, um das Studium (mit) zu finanzieren. Jeder Dritte arbeitet sogar mehr als zehn Stunden pro Woche.

Überfüllung und Existenznot?

Die Überfüllung der Universitäten ist ein mittlerweile ebenso jahrhundertealter Erinnerungsstrang. Seit Ende des 19. Jahrhunderts strömten immer mehr Studenten an die Universität. Zwischen 1870 und 1915 vervierfachten sich die Studentenzahlen, ohne dass die Betreuungsverhältnisse angemessen mitgewachsen wären. Bereits in der Weimarer Republik konnten die Zahl neu berufener Professoren und der Gebäudeausbau nicht Schritt halten. In der Weimarer Republik waren daher die Schlagworte der „Vermassung“ und „akademischen Berufsnot“ gebräuchlich, es gab zwei bis drei Mal mehr Absolventen als Jobs zur Verfügung standen. Seit der Weltwirtschaftskrise waren zehntausende Jungakademiker arbeitslos – und bildeten als „überflüssige Generation“ eine bereitwillige Anhängerschar für den Nationalsozialismus, wie sich auch in Baden und Württemberg zeigte.

Ein Studium in Einsamkeit, Freiheit und Unabhängigkeit von äußeren Zwängen, das unsere Vorstellungswelt beherrscht, ist eher Wunsch als Abbild. Überfüllte Hörsäle, überlastete Professoren und eine große Anonymität im Studium belasteten ganze Generationen. Das Erleben geistiger Abenteuer im Studium war und ist Ausnahme, nicht Regel. Fast die Hälfte der Studierenden beklagt, selten mit ihren Lehrern zusammenzukommen. Dabei erinnern sich die älteren Studienjahrgänge daran, wie lebensprägend gerade der frühe und intensive Kontakt zu den Hochschullehren sein kann. Die Studierenden verbringen heute im Durchschnitt gut einen halben Arbeitstag in Lehrveranstaltungen, das Selbststudium ist im zeitlichen Umfang zurückgegangen.

Anfang der 1990er-Jahre lag die durchschnittliche Studiendauer bei 13 Semestern, das durchschnittliche Alter der Absolventen bei 28 Jahren. Ein Studium war zum Parkplatz von Lebenszeit geworden, zur Abfüllstation für Fachwissen, bestenfalls zu einer Maschine, die das Produkt „Akademiker“ für die moderne Gesellschaft herstellt. Genau darauf wollten die Bologna-Reformen reagieren. Doch das Vorhaben, Studiengänge wieder studierbar zu machen und Studienabbruchquoten zu senken, wurde unter einer Vielzahl von normierenden Maßnahmen und Bürokratisierungen begraben, sodass heute allenthalben eine Verschulung der Universitäten beklagt wird. Ein selbstverantwortliches Studium ist mittlerweile einer durchgehenden Normierung gewichen: In Vorlesungen werden Anwesenheitslisten verteilt und am Ende beinahe jeder Veranstaltung wird eine Klausur geschrieben.

Ort der sozialen Chancenverbesserung

Universitäten sind der zentrale Ort für die Verteilung von Lebenschancen (Helmut Schelsky) und zur Heranbildung von Eliten. Wer studiert, dem stehen Wege offen: für eine abwechslungsreichere Tätigkeit, für mehr Verantwortung in der Gesellschaft, für eine höheres Berufseinkommen. Über Bildung werden Sozialchancen verteilt. Akademische Abschlüsse und ihre Titel (Bakkalaureus, Magister, Doktor und Professor) bieten berufliche Startvorteile und sind seit mehr als 200 Jahren der Königsweg für den sozialen Aufstieg.

Die Studierenden verbinden heute mit dem Studium überwiegend die Erwartung, höhere Einkommen zu erwirtschaften und Karriere zu machen. Das hat Folgen, die sich tief ins Bewusstsein eingraben: Wichtigstes Ziel des Studiums ist für viele, am Ende ein gutes Examen vorzuweisen. Prüfungen werden so zum beherrschenden Gesichtspunkt des Studiums. Umgekehrt nehmen Versagensängste zu, das Studium wird freudlos, ja qualvoll – entgegen dem landläufigen Erinnerungsmodell, das eher auf geistige Abenteuer aus war. Dergestalt hebt ein Universitätsstudium nicht das allgemeine Leistungsniveau, sondern füllt nur die psychotherapeutischen Beratungsstellen.

Wer selbst ein Universitätsstudium abgeschlossen hat, versucht in der Regel seine Kinder ebenfalls studieren zu lassen. Nicht umsonst sind die Quoten der akademischen Reproduktion über die Jahrhunderte hinweg sehr stabil geblieben. 60 Prozent der Studierenden von heute haben Eltern mit Studienerfahrung. Sehr gute Schüler mit akademischer Herkunft werden sehr wahrscheinlich auch ein Studium aufnehmen. Bei den weniger guten Schülern machen die Eltern schon in der Grundschule Druck – die Schulempfehlung wird dann zur ersten Selektion auf dem Weg zum Hochschulabschluss. Hieran manifestiert sich der Behauptungswille und Abstiegswiderstand akademisch gebildeter Familien, der weit stärker ausgeprägt ist als der Aufstiegswille aus den unteren Klassen, die an Universitäten nach wie vor unterrepräsentiert sind. Und das, obwohl sich deutsche Universitäten (anders als in den USA oder England, wo es sehr viel mehr sozial exklusive Ausbildungsstätten gibt) zu Recht einer erheblichen sozialen Offenheit rühmen dürfen.

Bis in die 1960er-Jahre war die Universität eine Institution für Männer aus dem mittleren und gehobenen Bürgertum, auch die wenigen Frauen waren eher noch „höhere Töchter“. Die sich im Zuge der sogenannten Bildungsexpansion der 1960er und 1970er-Jahre manifestierende Hoffnung, Arbeiterkinder verstärkt an die Universitäten zu binden, ist nicht erfüllt worden. Bildungswege unterscheiden sich noch immer vor allem nach Geschlecht, sozialer Herkunft und Migrationsstatus. Die meisten technischen Studiengänge werden in Baden- Württemberg von Männern belegt, dagegen sind sieben von zehn Lehramtsstudierenden Frauen. Jeder sechste Studienanfänger in Baden-Württemberg stammt aus dem Ausland, die meisten davon aus China.

Studenten als "Humankapital"

Ein Universitätsstudium gilt heute – im Zeichen des globalen Wettbewerbs – als ein volkswirtschaftliches Muss (Stichwort: Humankapital). Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands im weltweiten Wettbewerb, so das gängige Muster, hänge von der Bereitstellung ausreichend vielen, exzellent ausgebildeten Nachwuchses ab. Die Politik versucht das Sprachbild der „Bildungsrepublik Deutschland“ (Angela Merkel) zu platzieren. Darin manifestiert sich durchaus die kollektive Erinnerung, dass multifunktional einsetzbare Universitätsabsolventen mit flexiblen Qualifikationen ein wichtiges Potenzial für die Modernisierung von Staat und Gesellschaft und die Förderung der Wirtschaft und bürgerlichen Leistungsgesellschaft waren und sind.

Mit seinen Universitäten bildete der Staat eine Führungselite heran, der beim industriellen Ausbau, bei der Modernisierung von Verwaltung, Gesellschaft und Wirtschaft eine strategische Funktion zukam. Daher bestimmte Herzog Carl Eugen Mitte des 18. Jahrhunderts, wer Staatsdiener in Württemberg werden wolle, solle an der Landesuniversität Tübingen bzw. an der Stuttgarter Hohen Carlsschule studieren. Der aufgeklärte Staat des Absolutismus sah in den Universitäten Anstalten zur Befriedigung von Nützlichkeitserwägungen, sprich zur Ausbildung von Staatsdienern und anderer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Funktionsträger. Im Zuge der „Verwandlung der Welt“ (Jürgen Osterhammel) im 19. Jahrhundert wurde dieser Erinnerungsstrang weiter verstärkt. Je größer der Bedarf nach theoretischer Qualifikation im Zeichen der heraufziehenden Wissensgesellschaft wurde, je komplexer die Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft wurden, desto bedeutender wurden Universitäten. Davon zeugen insbesondere die Gründung und Entwicklungen der Technischen Hochschulen in Baden und Württemberg.

Emanzipation der Technischen Hochschulen

Angelehnt an die Vorbilder der Pariser „École Polytechnique“ von 1794 und dem „Polytechnischen Institut“ in Wien (1815) rief der badische Großherzog Ludwig I. in Karlsruhe eine „Polytechnische Schule“ ins Leben, um durch intellektuelle Anstrengung, Wissenschaft und praxisnahe Ausbildung die relative technologisch-ökonomische Rückständigkeit des Landes zu vermindern. „Zur Beförderung der vaterländischen Industrie“ wurde 1829 von König Wilhelm I. auch in Stuttgart eine „Vereinigte Real- und Gewerbeschule“ eingerichtet, die später, nach Abtrennung der Gewerbeschule, in „Polytechnische Schule“ (1839) umbenannt wurde. Rasche Fortschritte, sowohl in wissenschaftlicher wie technologisch-ökonomischer Hinsicht, ließen die Anstalten zu leistungsfähigen Ausbildungsstätten, zwischenzeitlich sogar zu einem „Mekka der technisch-wissenschaftlichen Ausbildung“ (Hans-Ulrich Wehler) für die moderne, industrielle, urbanisierte Welt aufsteigen.

Die Emanzipation der Technischen Hochschulen wurde zweifellos beschleunigt und begünstigt von dem Siegeszug von Technik und Industrie, der von den beiden südwestdeutschen Staaten durch eine kluge Hochschulpolitik flankiert wurde. 1865 wurde die Karlsruher Hochschule mit den Landesuniversitäten gleichgestellt, 1885 erhielt sie den Titel einer Technischen Hochschule, ebenso Stuttgart im Jahr 1890. Bald wurden den „THs“ auch die völlige Gleichstellung im Hinblick auf Promotionen und Habilitationen gewährt. 1899 wurde das Markenzeichen „Diplom-Ingenieur“ eingeführt, das erst im Zuge des Bologna-Prozesses wieder in Frage gestellt werden sollte.

Von zentraler Bedeutung für die Erfolgsstory Technische Hochschule waren die Konzeptionen eines Ferdinand Redtenbachers, dem Begründer des wissenschaftlich betriebenen Maschinenbaus. Er konzipierte in Karlsruhe ein Ausbildungsmodell, das auf die Vermittlung beruflicher Fertigkeiten zielte, dieses Ziel aber mit klar definierten wissenschaftlichen Ansprüchen verband. Auch die Beschäftigung mit Literatur, Philosophie, Geschichte und Kunst sollte einen festen Platz haben. Der damit geschaffene Hochschultyp war so attraktiv, dass er später von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/Massachusetts kopiert wurde.

Ort von Bildung und Reputation

Universitäten sind beides: Orte des Glanzes und der Verwahrlosung. Je nach Reputation, innerem Zustand und äußerer Zuschreibung schließen sich beide Pole nicht aus. Eine Art Schaufensterfunktion übernehmen die an der Universität beheimateten Wissenschaften. Theologie, Philosophie, Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften prägten abwechselnd als sogenannte „Leitwissenschaften“ das Bild von Universität, im Guten wie im Schlechten.

Im Jahr 1386 gründete der Kurfürst und Pfalzgraf bei Rhein Ruprecht I. die Universität Heidelberg als geistigen und kulturellen Mittelpunkt seines Staates, relativ unabhängig von äußeren Mächten und als Raum eigenen Rechts. Heidelberg war nach Prag und Wien die dritte Universitätsgründung auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches und ist heute die älteste und größte Universität in Baden-Württemberg. An der Universität sollten zunächst Kirchen- und Staatsdiener ausgebildet werden, die ersten Professoren kamen aus Paris und Prag.

Internationale Ausstrahlung auf Professoren und Studenten besaß Heidelberg in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo die Universität mit dem Charakter einer calvinistischen Hochschule zu einem Zentrum europäischer Wissenschaft und Kultur wurde. Ganz ähnlich waren die Motive bei der Gründung der Tübinger Universität: Graf Eberhard im Bart holte sich die besten Repräsentanten der zeitgenössischen Kirchen- und Glaubenserneuerung in die Stadt, um ihnen die Gelegenheit zur religiöse und theologischer Reformtätigkeit zu geben. Tübingen wurde so zur Hochschule des süd- und südostdeutschen Luthertums.

"Bildung durch Wissenschaft"

Die eigentliche Blüte erlebte die Universität (über Heidelberg oder Tübingen hinaus) im Zeitalter der Revolutionen um 1800. Obwohl sie manche Rituale und Symbole aus der mittelalterlichen Vergangenheit bewahrte, war die Universität des 19. Jahrhunderts selbst schon Revolution, obwohl oder gerade weil ihr grundlegender Reformanspruch nahezu unerreichbar schien. Bildung durch Wissenschaft, die durch Forschung definiert ist: dies war und ist das charakteristische Prinzip der Universität in der Tradition Wilhelm von Humboldts. Dazu kamen die Prinzipien der Freiheit von Forschung und Lehre, der Aufstieg der empirischen Wissenschaften und die Verbindung von staatlichem Entscheidungsrecht und korporativer Selbstverwaltung.

Die bislang dominierenden berufsbildenden Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin verloren ihre Vorherrschaft; die Philosophische Fakultät rückte ins Zentrum, wo im 19. und 20. Jahrhundert die modernen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften entstanden. Die „Glanzzeit der deutschen Universität“ (Franz Schnabel) begann, die ganz wesentlich auf dem Ideal und der Illusionen der Einheit von Forschung und Lehre fußte. Forschende und Lehrende sollten, so das neuhumanistische Denken, zusammen nach einzuübenden Regeln ergebnisoffen und kritisch an einem beispielhaften Problem einer Erkenntnisfrage zu Leibe rücken. Kritische Erkenntnis sollte nicht die Konsequenz natürlicher Begabung sein, sondern das Ergebnis von Übung und Können. Es ging um die Bildung von Kopf und Charakter.

Wissenschaftlichkeit lehrte, Fragen auszuhalten, ohne die Antwort zu kennen. Wissenschaftliches Denken ermöglichte es, vorherrschende Meinungen zu hinterfragen und Autoritäten selbstbewusst anzuzweifeln. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Betrachtung wurden publiziert, um sie nachvollziehbar und als originäre Leistung sichtbar zu machen. Genau hier liegt das wertvolle Fundament der Universität als Erinnerungsort. Hier liegen die große Strahlkraft und erhellende Unbestechlichkeit der Universität begründet, die das kollektive Gedächtnis im Hinblick auf die Institution Universität kennzeichnet. Das Credo Humboldts „Bildung durch Wissenschaft“ ist bis heute tief im Erinnerungsort Universität eingelagert.

Die Schwerpunktverlagerung zur Forschung

Das Ideal wurde indessen nie erreicht. Innerhalb der Universitäten vollzog sich rasch die Neugewichtung der Forschung, die auch dem Staat zunehmend nützlich wurde. Auch das Ansehen das Hochschullehrer gründete bald weniger auf Lehrerfolge im Humboldt’schen Sinne denn auf der Anerkennung der wissenschaftlichen Leistungen durch die internationale Gemeinschaft sachverständiger Fachvertreter. An die Stelle universeller Fachgelehrsamkeit trat der spezialisierte Experte. Die Reputation der Wissenschaftler fand ihren Schwerpunkt in der Forschung und der Akkumulation neuen Wissens, die zu den zentralen Berufungskriterien wurden.

Dies war wichtig geworden, um den lange Zeit vorherrschenden Einfluss von landsmannschaftlicher Herkunft und Familienbeziehungen in der Berufungspolitik zurückzudrängen. In Tübingen beispielsweise hatte sich die Professorenschaft zuvor aus Berufspraktikern oder aus Professorensöhnen rekrutiert. Nichtwürttemberger gab es so gut wie keine. Erst im Zuge der Universitätsreform konnte diese engherzige Selbstrekrutierung überwunden werden. Wissenschaftliche Exzellenz wurde zum wiederkehrenden Motiv.

Auch die Studierenden waren keineswegs puristische Humboldtianer, sondern verfolgten bald handfeste berufliche Interessen, waren in den Worten Friedrich Schillers „Brotgelehrte“, die nur wegen des „Amts, Geldes, Ansehens“ wegen studierten. Die „philosophischen Köpfe“, so Schiller, die von fachlicher Neugier und idealistischem Enthusiasmus getrieben waren, blieben immer eine Teilmenge.

Wachsende Ansprüche der Ausbildung, eine zunehmende Spezialisierung des Fachwissens und das quantitative Wachstum der Universitäten haben dazu geführt, das Bildungsideal immer als Herausforderung zu sehen und gegenüber der Notwendigkeit der Berufsvorbereitung zu positionieren. Ferner mussten die Universitäten bald akzeptieren, dass sie nicht länger der alleinige Träger der Wissenschaften waren. In beträchtlichem Ausmaß wurde gerade die naturwissenschaftliche Forschung an Forschungsstätten außerhalb der Universität etabliert, die den Weg zu einer von Ausbildungspflichten befreiten Großforschung ebneten, die maßgeblich von dem Geld und den Interessen der Großindustrie gefördert wurde.

Zunehmende Differenzierung von Forschung und Lehre

Nachdem Baden im Zuge der napoleonischen Gebietsreform die zwei hoch verschuldeten und hinsichtlich der herrschenden Gelehrsamkeit maroden Universitäten Heidelberg und Freiburg geerbt hatte, stand zunächst im Raume, eine von beiden zu schließen. Obwohl für Baden der Unterhalt mehrerer Hochschulen (bald kam Karlsruhe hinzu) eine schwere finanzielle Last darstellte, engagierte sich der Staat in besonderer Weise. Von allen Bundesstaaten des Deutschen Reichs hat Baden im Verhältnis zu seinem Gesamtetat am meisten Geld für die Wissenschaft ausgegeben, in den Jahren 1890 bis 1900 zum Beispiel vier Mal so viel wie Preußen. Der badische Großherzog war rector magnificentissimus seiner Landesuniversitäten, hier studierten seine Söhne.

Reformerpersönlichkeiten wie Sigismund von Reitzenstein reorganisierten die Universität und schufen neue Formen und Möglichkeiten des akademischen Lebens. An den Universitäten sollten in Zukunft die hoch qualifizierten Beamten ausgebildet werden, die der Staat dringend brauchte. Die Reformoffenheit des Staates, eine aufgeschlossene Staatsverwaltung sowie leistungsfähige Wissenschaftler als Hochschullehrer waren für die Entwicklung der Universitäten in Baden und Württemberg von konstituierender Bedeutung.

Es begann eine Zeit der zunehmenden Differenzierung der Forschungs- und Lehrstätten an der Universität. Bald schon konnte eine bemerkenswerte Ballung von herausragenden Gelehrten festgestellt werden. Aufklärer, Philosophen und Naturforscher prägten das Leben in den Universitätsstädten. Heidelberger Professoren gehörten zu den Trägern des Vormärz-Liberalismus, mehrere von ihnen waren 1848 Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung. Wissenschaft und Geist prägten auch das Alltagsbild in Tübingen, wo die Studenten fast ein Viertel der Einwohnerschaft stellten. In der Altstadt gibt es nur wenige Häuser und Plätze, die nicht mit dem Namen eines berühmten Gelehrten verbunden sind: Hegel und Schelling, Hölderlin, Mörike, Uhland und Kepler.

Berühmte Wissenschaftler

Die Naturwissenschaften entwickelten sich im Zusammenwirken großer Forscher wie den Heidelberger Wissenschaftlern Robert Wilhelm Eberhard Bunsen und Hermann von Helmholtz. Heinrich Hertz wies in Karlsruhe die Existenz elektromagnetischer Wellen nach und lieferte damit die Grundlagen für die modernen Medien. Otto Lehmann legte mit seinen Studien über Flüssigkristalle die Grundlagen für die modernen Bildschirme. Max Weber nahm 1896 den Ruf auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften in Heidelberg an. In der Weimarer Republik galt Heidelberg als eine Hochburg des demokratischen Geistes, geprägt durch Professorengestalten wie Karl Jaspers, Gustav Radbruch, Martin Dibelius oder Alfred Weber.

Wenn es stimmt, dass Erfindungsgeist nicht systemisch gelehrt werden, sondern nur durch ein entsprechend geistiges Klima gefördert werden kann, dann muss ein solches Klima zu Beginn des 20. Jahrhunderts geherrscht haben. Von den seit 1901 vergebenen Nobelpreisen entfiel bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ein bemerkenswert hoher Anteil auf deutsche Gelehrte. Von heute aus betrachtet forschten mehr als 30 Nobelpreisträger an den Universitäten in Baden oder Württemberg bzw. hatten an einem der Orte eine schöpferische Zwischenstation. Zuletzt erhielt Harald zur Hausen 2008 den Nobelpreis für Medizin.

Bemerkenswert war auch der Aufstieg Freiburgs von der katholischen Provinzuniversität, wo 1871 gerade einmal 204 Studenten eingeschrieben waren, hin zur fünftgrößten Universität im gesamten Deutschen Reich. 1885 wurde die Marke von 1000 Studierenden überschritten, 1914 waren bereits 3178 Studenten eingeschrieben. Auch in Tübingen und Heidelberg waren die Entwicklungen ähnlich. Vor allem junge, sehr qualifizierte Wissenschaftler zog es nach Freiburg, die zur modischen „Aufsteigeruniversität“ avancierte. Je renommierter die dortige Forschung wurde, desto interessanter wurde Freiburg alsbald auch als Endstation einer wissenschaftlichen Laufbahn.

Spezialisierung mit Neugründungen

Die Hochschulpolitik der südwestdeutschen Staaten versuchte den wissenschaftlich-technischen Fortschritt aufzugreifen und auf Forderungen der Industrie zu reagieren. Im Zuge einer Bildungsexpansion kam es zu etlichen Neugründungen, so etwa in Mannheim 1907, wo die 1779 gegründete Handelsschule für Mannheimer Kaufmannssöhne in eine Handelshochschule nach Leipziger Vorbild weiterentwickelt wurde. Aus Heidelberg stellten sich zahlreiche Hochschullehrer zur Verfügung, um an dem neuen Standort auch eine qualitativ verbesserte Wirtschaftsausbildung und eine kameralistische Laufbahn für den höheren Staatsdienst anzubieten. Die Auffächerung der Wissenschaften in Spezialdisziplinen beförderte eine sprunghafte Bautätigkeit, die beispielsweise Tübingen eine neue Prägung verlieh. 1861 wurde in Tübingen die erste eigene naturwissenschaftliche Fakultät in Deutschland eingerichtet.

Um den Hunger im Land nach den Napoleonischen Kriegen zu besiegen und die Ernährung grundlegend zu verbessern, gründete der württembergische König Wilhelm I. eine landwirtschaftliche Versuchs- und Lehranstalt in Hohenheim, an der nach neuen Gesichtspunkten die verbesserten Methoden der Landwirtschaft gelehrt werden sollten. Es wurden die Grundlagen für die Förderung der Landwirtschaft gelegt, die bis heute Bestand haben. 1847 wurde die Anstalt durch Erlass von Wilhelm I. zur Landwirtschaftlichen Akademie erhoben. Der Ausbildungsschwerpunkt lag zunächst eindeutig im Agrarsektor; so gab es Professuren für Land- und Forstwirtschaft, Technologie, Naturwissenschaften, Mathematik und Physik. 1854 und 1875 kamen die Agrikulturchemie sowie die Volkswirtschaftslehre hinzu. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging man dazu über, die bis dato alleinstehenden Lehrstühle zu Instituten zusammenzufassen.

Viele dieser Neugründungen oder Neubelebungen waren in ihrer Zeit Pionierleistungen. Baden und Württemberg waren mit Bayern zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Länder in Deutschland, in denen Frauen zum Studium zugelassen wurde. Allerdings geschah dies immer noch rund 30 Jahre später als in den europäischen Nachbarländern. Die höhere Landwirtschaftsschule Hohenheim berief 1923 mit Margarete von Wrangell die deutschlandweit erste prüfungsberechtigte ordentliche Professorin. In Erinnerung daran schreibt das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg heute das „Margarete-von-Wrangell- Habilitationsprogramm“ zur Förderung des Hochschullehrerinnennachwuchses aus.

Die "Selbstenthauptung des deutschen Geistes"

Die nationalsozialistische Diktatur hinterließ tiefe Schäden in der Universitätslandschaft. In einer beispiellosen „Selbstenthauptung des deutschen Geistes“ (Herbert Strauss) wurden an den Universitäten seit April 1933 jüdische und politisch missliebige Wissenschaftler ausgegrenzt. In Heidelberg wurden beispielsweise 24 Prozent des gesamten Lehrkörpers entlassen. Die Mehrheit nahm die Vertreibung der Zunftgenossen bestenfalls hin; auch bei der Säuberung der Studentenschaft herrschte Schweigen. Die einzigen Widerstandsgruppen innerhalb der Professorenschaft organisierten sich in den 1940er-Jahren in Freiburg. Ansonsten wurden wissenschaftliche Normen und ethische Prinzipien, mithin die früher beschworene akademische Gemeinschaft dem Führerstaat und seinen völkisch-antisemitischen Grundlagen geopfert.

Viele sympathisierten mit dem Nationalsozialismus. An den Universitäten war eine geradezu unterwürfige Kooperationsbereitschaft festzustellen, wie bereits in Martin Heideggers Freiburger Rektoratsrede deutlich wurde. Baden verordnete seinen Universitäten als erstes Land das „Führerprinzip“ ( die „Führerverfassung“ war von Heidegger maßgeblich mitgestaltet worden) und löste das Selbstbestimmungsrecht der Hochschulen auf. Aus dem „Musterländle“ sollte der „Mustergau“ werden. Die Universität Heidelberg hatte sich in der Zeit von 1933 bis 1945 den Ruf der radikalsten Universität des Nationalsozialismus erworben. In Freiburg veröffentlichte der Professor für Psychiatrie Alfred Hoche die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens“, in Tübingen plädierte der evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel in seiner Schrift „Die Judenfrage“ für den Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft, wenn notwendig auch durch Massenmord. In Tübingen gehörten 1945 81 Prozent des Lehrkörpers der NSDAP an.

Ort der nie abgeschlossenen Reform

Universitäten waren in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder zum Untergang verurteilt: Im 17. Jahrhundert, nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges genauso wie während der legendenumsponnenen Studentenbewegung, in welcher die „Ordinarien-Universität“ zerschlagen werden sollte und ganze Universitäten oder Fakultäten zeitweilig dem Ruin entgegenzutreiben schienen. Untergangsstimmung machte sich auch im Zuge der Bologna-Reform breit, in der das politische Feuilleton die Dämmerung der Gelehrsamkeit zu entdecken schien. Moralisch beschädigt war die Universität jedoch niemals stärker als in der Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Ende der NS-Herrschaft musste die Universität geistig neu aufgebaut werden.

Immer wieder wurde die Universitäten mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen bzw. bildungspolitischen Vorhaben konfrontiert, für die sie weder wissenschaftlich noch pädagogisch, geschweige denn organisatorisch vorbereitet waren. Häufig entstand dadurch ein Kampffeld, auf dem sich „individualistische Wünsche, revolutionärer Umgestaltungswille und konservative Behutsamkeit einander gegenüberstehen“ (Walther Peter Fuchs). Doch immer wieder zeigte sich zumindest an einigen Orten auch die Reformfähigkeit der Universität. Gerade diejenigen Universitäten, denen es gelang, ein Reformprogramm zu verwirklichen, gewannen in ihrer Zeit an Einfluss.

Drei Grundmotive der Hochschulreform lassen sich unterscheiden: Das erste basiert auf als unzureichend erachtete Studienbedingungen und der Befürchtung, das Niveau der Absolventen reiche nicht mehr aus, um Führungsaufgaben in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wahrzunehmen. Hier hat die Bologna-Reform ihre Wurzel. Das zweite Motiv ergab sich aus der befürchteten „Bildungskatastrophe“ (Robert Picht) und führte zu der Frage, wie die Universität die Türen für immer mehr Studierende öffnen könnte. Hieran knüpfte der massive Ausbau der Universitätsstandorte in den 1960er- und 1970er-Jahren an, für den Bochum zur bewusstseinsprägenden Einrichtung wurde. Aber auch der Ausbau der Universität Mannheim ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Das dritte Motiv hatte mit den Entwicklungen der Wissenschaften selbst zu tun und der Skepsis, ob die alten Universitäten diesen Entwicklungen noch hinlänglich Rechnung tragen könnten. Für diesen Ansatz steht die Gründung der Universität Konstanz.

„Klein-Harvard am Bodensee“: Die Gründung der Universität Konstanz

Bereits im Jahr 1959 hatte Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger bei einer Bauernversammlung in Singen vorgeschlagen, in Konstanz eine Universität zu gründen und in ihr Ideen der Hochschulreform zu verwirklichen. Am 27. Februar 1964 beschloss der Landtag die Errichtung der Universität und dabei auch die Verwirklichung eines Modells der Hochschul- und Studienreform. „Klein-Harvard am Bodensee“ sollte entstehen. Gemeint war eine Universität der Kooperationen rings um die modernen Erfahrungswissenschaften (Ralf Dahrendorf). Es sollten gerade solche Wissenschaften betrieben werden, deren Kernfragen nur in der Kombination verschiedener methodischer und sachlicher Ansätze möglich war. Dafür wurde nach neuen Formen der inneren Gliederung gesucht.

Um Fächergrenzen besser überwinden zu können, wurde aus dem angelsächsischen Raum das Konzept der Campus-Universität übernommen; Service-Einrichtungen wie Mensa und Bibliothek wurden zentralisiert. Zu den Reformprojekten gehörte die Verlagerung größerer Teile der Lehre von Vorlesungen in begleitende Seminare und Übungen; Prüfungen sollten studienbegleitend erfolgen. Zwar wurde das ehrgeizige Ziel nicht erreicht, eine Forschungshochschule der modernen Erfahrungswissenschaft zu schaffen, und statt der geplanten 3000 Personen studierten bald 10 000 junge Menschen in Konstanz. Aber einige Fächer konnten sich rasch über die berufenen Wissenschaftler profilieren.

Zeitgleich mit Konstanz entstand die Universität Ulm, die laut Gründungskonzept als Medizinisch-Technische Hochschule eingerichtet werden sollte. „Unter einem Dach“, so das gängige Schlagwort, sollten auf dem Gelände Oberer Eselsberg die Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften und später dann die Informatik mit der klinischen Forschung verbunden werden. Ehrgeizige hochschulreformerische Pläne standen abermals im Hintergrund, sodass ein Umfeld für neue Forschungsfelder geschaffen werden konnte.

Bleibt im Streben nach „Exzellenz“ die Lehre auf der Strecke?

Inzwischen sind Profilbildung und Wettbewerb, Elite und Leuchtturm die Schlagworte der Stunde. Hinzu kommt die Forderung nach mehr Autonomie. Mehr Autonomie bei der Zulassung von Studiengängen, bei der Berufung von Professoren und der Bewirtschaftung von Gebäuden. Nur so, behaupten die Hochschulleitungen, werden die Universitäten (wieder) attraktiv für hochkarätige Forscher. Wohlgemerkt: Forscher, nicht Hochschullehrer. In Forschungskollegs oder „Institutes for Advanced Studies“ wie in Freiburg, Konstanz oder Heidelberg sollen hervorragende Wissenschaftler von der Lehre entbunden werden, um ungestört ihren Forschungsarbeiten nachgehen zu können.

Es geht um die Mobilisierung unentdeckter Reserven, die Erschließung zukunftsträchtiger Forschungsfelder, die Durchmischung von Fachgebieten. Große Forschungsverbünde sind im Trend; es werden hohe Summen für die Schaffung und Unterhaltung solcher Verbünde zur Verfügung gestellt. Neue Steuerungsmodelle werden geschaffen, neue Zentren und Beiräte etabliert, die alten Gremien und Organe verlieren an Macht und Mitspracheautorität. Von den nur mittelbar Beteiligten werden die Universitäten daher zunehmend als Häufung von Gremien und Kommissionen wahrgenommen, deren Mitglieder man nicht kennt und deren Entscheidungen man daher günstigenfalls interesselos oder resigniert hinnimmt oder aber aus einem allgemeinen Verdacht heraus kritisiert.

Der Drittmittelerwerb gilt als zentrale Leistungskennziffer und wird als „Tanz um das Goldene Kalb inszeniert“ (Richard Münch). Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs gelten als Zierde jeder Universität. 73 Prozent der Einnahmen beziehen die Universitäten in Baden-Württemberg mittlerweile aus Drittmitteln. Da die Ausstattung an Grundmitteln vergleichsweise abnimmt und die Studierendenzahlen nach wie vor stark ansteigen, leiden Forschung und Lehre. Studierende wünschen sich einen stärkeren Praxisbezug des Studiums- und mehr Veranstaltungen im kleineren Kreis, werden aber tendenziell Forschern ausgeliefert, denen zur Lehre nichts mehr einfällt. Dabei hängt die Qualität einer Spitzenuniversität mit der individuellen Betreuung der Studierenden zusammen. Kurzum: In der Massenuniversität der Gegenwart wird die Reformanstrengung zur Herkulesaufgabe.

Universität als Erinnerungsort

In jüngster Zeit hat die „Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen“ die Reformdebatten auch in der Öffentlichkeit bestimmt und zu einer Förderung der Spitzenforschung am Wissenschaftsstandort Deutschland beigetragen. Gerade die baden-württembergischen Universitäten waren dabei sehr erfolgreich und bestätigten die öffentliche Wahrnehmung Baden-Württembergs als Wissenschafts- und Universitätslandschaft. Insgesamt wurden neun Graduiertenschulen und sieben Exzellenzcluster eingerichtet.

Die Universitäten in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe und Konstanz wurden für ihr Zukunftskonzept mit dem Titel „Eliteuniversität“ geadelt. Die Exzellenzinitiative hat sich darüber hinaus als Jobmotor erwiesen und an den Landesuniversitäten für einen Beschäftigungsboom gesorgt. Zu den interessantesten und womöglich folgenreichsten Aspekten der Exzellenzinitiative gehört die intensivierte Zusammenarbeit zwischen Universität und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, wie sie derzeit am weitesten und mutigsten in Karlsruhe gelebt wird. Hier haben sich das Forschungszentrum Karlsruhe als außeruniversitäre Forschungseinrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft und die Universität zum Karlsruher Institut für Technologie zusammengeschlossen.

Auch wenn es inzwischen Exzellenzwettbewerbe gibt, die „mehr Ehre für die Lehre“ versprechen, bleibt allenthalben sichtbar, dass der Lehre nach wie vor eher kompensatorischer Charakter zugesprochen wird. Dies steht in deutlichem Widerspruch zum Erinnerungsort Universität als einer auf die Lehre bezogenen Einrichtung. Denn die kollektive Erinnerung fokussiert sich auf den Bildungsanspruch der Universität und die Einübung von Verstandes- und Verhaltensdispositionen (heute spricht man meist von „Kompetenzen“), die sich über Jahrhunderte hinweg als hochgradig funktional erwiesen und der Universität höchste Anerkennung verschafft haben. Die Universität lebte und lebt von Persönlichkeiten in Forschung und Lehre, über die sich diese Reputation bewahren und verstetigen lässt. So gesehen wird die Universität als Erinnerungsort auch in Baden-Württemberg ein ständiges Reformprojekt bleiben.

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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