Wyhl – „Nai hämmer gsait!“ – stilbildender ziviler Widerstand am Kaiserstuhl

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Das selbstbewusst-alemannische „Nai hämmer gsait!“ steht symbolisch für den erfolgreichen und stilbildenden Widerstand der Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung rund um den kleinen Ort Wyhl am Kaiserstuhl, wo in den 1970er-Jahren der Bau eines Atomkraftwerks verhindert werden konnte. Wyhl ist damit zum Geburtstort der Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung in ganz Deutschland geworden. 

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Autor: Ulrich Eith

Der Text von Ulrich Eith erschien unter dem Titel „Wyhl - „Nai hämmer gsait!“ – stilbildender ziviler Widerstand am Kaiserstuhl“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Einleitung Wyhl

Der Juni 2011 steht für eine historische Zäsur in der deutschen Energiepolitik. Als Reaktion auf die verheerenden Unfälle im japanischen Kernkraftwerk Fukushima vom März 2011 hat die Bundesregierung unter der CDU-Kanzlerin Angela Merkel am 6. Juni 2011 den schrittweisen Atomausstieg bis 2022 beschlossen. Der Deutsche Bundestag stimmte dem am 30. Juni 2011 zu. Viele Aktivisten der Anti-Atomkraftbewegung reagierten mit gemischten Gefühlen.

Seit etwa 40 Jahren fordern sie diese Energiewende mit dem Hinweis auf die letztlich unverantwortbaren Risiken der Atomtechnologie. Dennoch bedurfte es erst der aufwühlenden Bilder aus Japan, um in der breiten Öffentlichkeit und bei der Regierung einen entsprechenden Stimmungsumschwung herbeizuführen. Allerdings ist auch richtig, dass die Anti-Atomkraftbewegung in Deutschland einen weit größeren Einfluss auf Politik und Gesellschaft ausüben konnte als in den meisten europäischen Nachbarländern.

Beobachtbar ist dies in besonderer Deutlichkeit in Südbaden. Freiburg - inzwischen mit dem programmatischen Label „Green City“ ausgestattet - ist auch bundesweit eine Hochburg der Partei Bündnis 90 / Die Grünen, zu deren Wurzeln die Anti-Atomkraftbewegung zählt. Die Region Freiburg hat sich zudem über die Jahre hinweg zu einem weltweit beachteten Zentrum der Umwelt- und Solartechnologien entwickelt. Da passt es ins Bild, dass die Ursprünge der Anti-Atomkraftbewegung ebenfalls eng mit Südbaden, genauer mit dem Ort Wyhl am Kaiserstuhl, verbunden sind.

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Mythos Wyhl

Das heute etwa 3700 Einwohner zählende Wyhl liegt am nördlichen Rand des Kaiserstuhls, unweit der Rheinauen und umgeben von Obstbäumen und alten Streuobstwiesen. Die über tausendjährige Siedlungsgeschichte weist die typischen historischen Besonderheiten vieler katholisch geprägter Ortschaften im Südwesten auf. Ab 1375 gehörte Wyhl für über vier Jahrhunderte zu Vorderösterreich, bevor es 1806 durch Napoleon zu Baden kam. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich im Ort die Zigarrenindustrie und bestimmte über Jahrzehnte hinweg das lokale Wirtschaftsgeschehen.

Kaum etwas verweist heute auf die überregionale Bedeutung, die Wyhl in den 1970er-Jahren durch den Widerstand gegen das nahe am Ort geplante Atomkraftwerk erlangte. Damals führte der Schulterschluss von einheimischer Landbevölkerung und akademischen Kreisen aus Freiburg zur längerfristigen Besetzung des Bauplatzes. Er zog eine hohe mediale Aufmerksamkeit nach sich und erzwang letztlich den Abbruch des gesamten Bauvorhabens. Der erfolgreiche Widerstand wurde zum Symbol für die Wirkungsmacht außerparlamentarischer politischer Einflussnahme und den heraufziehenden gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik.

Ein dreifacher Mythos vom Ursprung rankt sich seither um die Verhinderung des Atomkraftwerks: Wyhl steht erstens für den Beginn der Anti-Atomkraftbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, zweitens war der Widerstand in Wyhl stilbildend für den Aufschwung der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen ab Mitte der 1970er-Jahre und drittens gelten bis heute die Ereignisse in Wyhl als eine entscheidende Wegmarke zur Gründung und Etablierung der Grünen im Südwesten.

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„Saubere“ Energie, Wirtschaftswachstum und Impuls für den Oberrhein: die Zielvorstellungen der Landesregierung

Verständlich wird die Symbolkraft des Widerstands in Wyhl vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse und zeitbedingten Einstellungen. Aus heutiger Sicht gelten die 1960er- und 1970er-Jahre als ausgesprochen technik- und fortschrittsgläubig. Noch war der Optimismus der Funktionseliten in Politik, Wirtschaft und Verwaltung ungebrochen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse zielgerichtet planen und steuern zu können. Mit der Bildung der Großen Koalition in Bonn 1966 waren gesellschaftspolitische Reformen und ökonomische Modernisierungsprozesse ins Zentrum des politischen Handels gerückt. Eine Schlüsselrolle kam hierbei dem damals noch als unkritisch angesehenen Wirtschaftswachstum zu, galt dieses doch als zentrale Voraussetzung für den Ausbau des Sozialstaates und für mehr soziale Gerechtigkeit.

Vom Ausbau der als „sauber“ angesehenen Atomenergie versprachen sich viele eine effektive und preisgünstige Stromversorgung gerade auch für den industriellen Bedarf sowie vielfältige Impulse für die wirtschaftliche und technologische Entwicklung. Dieser Ausbau war zudem Teil der politischen Ambitionen, den Oberrheingraben, der durch die Folgen des Versailler Vertrags noch weitgehend ländlich strukturiert war, umfänglich zu industrialisieren und massiv wirtschaftlich zu fördern.

Die Landesregierung beabsichtigte, hierfür allein in Baden-Württemberg fünf neue Atomkraftwerke in Rheinnähe zu bauen. Vorbild war das Ruhrgebiet, Fernziel war die Schaffung einer europäischen Industrieachse entlang des Rheins von Basel bis Rotterdam. Die vielfach zitierte Bemerkung des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger aus einer Regierungserklärung von 1975, dass ohne das Kernkraftwerk Wyhl zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen würden, verdeutlicht in aller Klarheit den zu diesem Zeitpunkt noch vorherrschenden Fortschrittsglauben und die Größenordnung der geplanten großindustriellen Umstrukturierungen.

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Die Chronologie des Widerstands

Als Standort für das neue Atomkraftwerk war zunächst Breisach vorgesehen, nicht weit vom ebenfalls projektierten – und später auch gebauten – Atomkraftwerk Fessenheim auf der französischen Rheinseite. Bereits 1972 jedoch kam es zu massiven Protesten der Winzer im benachbarten Kaiserstuhl, wo die umfangreiche, staatlich geförderte Rebumlegung und Flurbereinigung zur Schaffung von Großterrassen für einen effektiven Weinbau im vollen Gange war. Sie fürchteten einen Anstieg der Luftfeuchtigkeit und eine Beeinträchtigung der Sonneneinstrahlung durch den zu erwartenden Wasserdampf aus den geplanten großen Kühltürmen.

Der gut organisierte Protest hatte Erfolg, zumal mit dem Rheinauewald bei Wyhl bereits im Sommer 1973 ein alternativer Bauplatz zur Verfügung stand. Unterstützung hierzu kam vom Wyhler Bürgermeister, der auf wirtschaftliche Vorteile hoffte und im Ort Befürworter für den Bau des Kernkraftwerks hinter sich wusste. Anders hingegen sah es in den meisten Nachbargemeinden aus, wo Bevölkerung und Rathäuser schon bald weitgehend gemeinsam den Protest gegen das geplante Atomkraftwerk organisierten.

Zum Rückgrat des Widerstands wurden die neuen Bürgerinitiativen, eine für deutsche Verhältnisse damals noch ungewöhnliche zivilgesellschaftliche Organisationsform. Zur Durchsetzung ihrer Interessen verfolgten sie verschiedene Strategien, die Jahre später dann auch andernorts immer wieder zu beobachten waren. 1973/74 setzen sie zunächst auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit durch Informationsveranstaltungen über die Schwachstellen und Folgen der Nukleartechnik. Nicht selten verfügten die Widerstandsaktivisten hierbei über detailreichere Sachkenntnisse als die Experten der Landesregierung oder des regionalen Energieversorgers, des „Badenwerks“.

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Aufklärung und Protest

Es galt, durch Sachaufklärung die passive Mehrheit im näheren und weiteren Umkreis des Bauplatzes zur aktiven politischen Mitarbeit zu mobilisieren. Hinzu kamen schon bald Formen des zivilen Ungehorsams. Als im Herbst 1974 das Genehmigungsverfahren eingeleitet wurde, zwangen die Gegner des Baus Politikerinnen und Politiker zur Diskussion, etwa durch einen Besuch von 700 südbadischen Atomkraftgegnern im Stuttgarter Landtag oder auch durch die Blockade einer Fraktionssitzung der CDU-Landtagsfraktion in Kiechlingsbergen im Kaiserstuhl durch Winzer und Bauern mit ihren Traktoren.

Mit Beginn der Bauarbeiten am 18. Februar 1975 besetzte dann eine überwiegend aus Winzern und Bauern – unter ihnen etliche Winzer- und Bauersfrauen – bestehende Gruppe spontan den Bauplatz. Erste Erfahrungen mit dieser neuen Protestform hatten die Aktivisten nur wenige Wochen zuvor im französischen Marckolsheim auf der gegenüberliegenden Rheinseite gesammelt, wo Elsässer und Badener auf diese Weise gemeinsam den Bau eines Bleichemiewerks verhindern konnten. Am 20. Februar 1975 ließ die Landesregierung den Platz in Wyhl durch die Polizei zwischenzeitlich räumen, nur kurze Zeit später erfolgte die erneute, gut neun Monate andauernde Besetzung des Bauplatzes in Wyhl.

Die Klagen der Gemeinden Endingen, Forchheim, Lahr, Sasbach, Schwanau, Weisweil und einiger Privatpersonen gegen den Bau scheiterten am 14. Oktober 1975 vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim, nachdem das Freiburger Verwaltungsgericht zuvor einen Baustopp verfügt hatte. Die Landesregierung durfte den ersten Bauabschnitt auf eigenes Risiko weiterführen. Die grundsätzliche Entscheidung über den Bau des Atomkraftwerks stand allerdings noch aus und oblag weiterhin dem Verwaltungsgericht Freiburg.

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Friedlicher Zwang zum Baustopp

Die Platzbesetzer richteten sich dauerhaft ein. Sie organisierten Kulturveranstaltungen und gaben eine Besetzerzeitung heraus. Die auf dem Bauplatz gegründete „Volkshochschule Wyhler Wald“ bot mit Expertenvorträgen und Diskussionsveranstaltungen ein wichtiges, integrierendes Forum des Widerstands. Schnell entwickelte die Besetzung eine Anziehungskraft weit über die Region hinaus, entsprechend groß war auch das Interesse der überregionalen Medien. Aus ganz Deutschland kamen Sympathisanten zur Unterstützung, nicht immer zur Freude der regionalen Aktivisten aus Südbaden und dem Elsass. Trotz manch interner Konflikte gelang es den Atomkraftgegnern, ihre Protestaktionen gewaltfrei und friedlich durchzuführen.

Angesichts des andauernden Widerstandes nahm die Landesregierung schließlich Verhandlungen mit den Besetzern auf. Nach der Zusicherung eines vorläufigen Baustopps und der Einstellung sämtlicher Verfahren gegen die Atomkraftgegner räumten die Bürgerinitiativen Anfang 1976 das Gelände. Im März 1977 untersagte das Verwaltungsgericht Freiburg in nächster Instanz den Bau, 1982 erklärte ihn der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof wieder für rechtens. Erneut demonstrierten in Wyhl 30 000 Atomkraftgegner.

Auch in der Öffentlichkeit hatten die kritischen Auseinandersetzungen mit der Atomenergie zwischenzeitlich einen immer größeren Raum eingenommen. Es waren nicht zuletzt die wiederholten Störfälle im nordenglischen Sellafield 1957, 1973 und die partielle Kernschmelze im US-Reaktor Three Mile Island 1979, die das gesamte Atomprogramm von Bund und Landesregierung in die Kritik brachten. Die Technik- und Planungseuphorie der späten 1960er-Jahre war verflogen. 1983 verfügte Ministerpräsident Späth dann den vorläufigen Stopp des Bauvorhabens in Wyhl mit der Begründung, das geplante Atomkraftwerk sei für die wirtschaftliche Entwicklung der Region auf absehbare Zeit nicht notwendig.

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Ermutigend und stilbildend: die weitreichenden Folgen von „Wyhl“

Die Bedeutung Wyhls für die Entwicklung der Neuen Sozialen Bewegungen und besonders der Anti-Atomkraftbewegung beruht zunächst schlicht auf dem Erfolg des praktizierten Widerstands. „David“ – die lokale Bevölkerung – hatte sich gegen den mächtigen „Goliath“ – die Landesregierung – behauptet und durchgesetzt. Wyhl hatte es gezeigt: Der Widerstand von unten gegen staatliche Bevormundung von oben war nicht nur organisierbar, er war auch erfolgreich. Bezeichnend für den Anspruch und zunehmend auch das Selbstbewusstsein der Atomkraftgegner war deren apodiktischer Slogan: „Nai hämmer gsait!“ („Nein haben wir gesagt!“). Wohl millionenfach findet er sich auf Ansteckbuttons, Aufklebern und Flugblättern.

Darüber hinaus trug die Auseinandersetzung in Wyhl mit dazu bei, neue Beteiligungs- und Protestformen als Mittel legitimer demokratischer Einflussnahme auch über studentische Kreise hinaus zu etablieren. Zum Einsatz kam nahezu das gesamte Repertoire der damals als unkonventionell bezeichneten Beteiligungs- und Aktionsformen – von der Aufklärung und Mobilisierung der Öffentlichkeit durch Druckerzeugnisse und Diskussionsveranstaltungen über die Durchführung von Protestdemonstrationen und Mahnwachen, den Einsatz juristischer Mittel wie Verfahrenseinsprüche oder Verfassungsbeschwerden bis hin zu Maßnahmen des zivilen Ungehorsams wie Blockaden, Boykotte und Besetzungen.

Hierbei war die Gewaltfreiheit gegen Personen und Sachen für die Wyhler Bürgerinitiativen und den allergrößten Teil der nachfolgenden Neuen Sozialen Bewegungen eine zentrale Voraussetzung, auch wenn die Grenzen nicht immer und überall strikt eingehalten wurden. Kurzum, in Wyhl wurden die neuen Instrumentarien des zivilgesellschaftlichen Protestes und der direkten, außerparlamentarischen politischen Einflussnahme erfolgreich praktiziert. Wyhl wirkte in dieser Hinsicht ermutigend und stilbildend. Wyhl galt als Vorbild für spätere Aktionen und Auseinandersetzungen in ganz Deutschland.

Zivilgesellschaftliches Expertentum als Merkmal der Neuen Sozialen Bewegungen

In inhaltlicher Hinsicht waren die Argumente und Argumentationsmuster von Befürwortern und Gegnern der Atomenergie durch die Konflikte in Breisach und Wyhl weitgehend bekannt und vielfach durchgespielt. Spätere Auseinandersetzungen um weitere Standorte für Atomkraftwerke folgten fast immer demselben Muster von Argumenten und Gegenargumenten unter Berücksichtigung von regionalen Besonderheiten. Die Aktivisten der Anti-Atomkraftbewegung hatten schon bald die kleinsten technischen Details wissenschaftlich durchgearbeitet und sich zu ausgewiesenen Fachexperten weiterentwickelt.

In der Folge wurde dieses zivilgesellschaftliche Expertentum geradezu zum Kennzeichen Neuer Sozialer Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen. Inzwischen greifen selbst Regierungen und öffentliche Verwaltungen immer wieder auf diese Sachkenntnisse zurück. Die inhaltliche Professionalisierung der Anti-Atomkraftbewegung förderte zudem die Überwindung des jeweils lokalen Blickwinkels. Ob Wyhl, Brokdorf oder Grohnde, bis hin zur Wahl ihrer Slogans betonten lokale Initiativen ihre grundsätzliche, überregionale Ablehnung von Atomkraftwerken, etwa „Kein AKW in XY und anderswo“.

Überdies rückte die Systematisierung der Argumente der Atomkraftgegner die vielfältigen Anknüpfungspunkte und die inhaltliche Nähe zur Umweltschutz- und auch zur Friedensbewegung stärker ins Bewusstsein. Ausgehend von ökologischen und pazifistischen Grundpositionen hat sich in Deutschland wie auch in anderen westlichen Industriestaaten über die 1970er-Jahre hinweg eine vielfältige Bewegungslandschaft herausgebildet, die die traditionellen Lebensgewohnheiten, Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Organisationsformen in Frage stellte. In den Universitäts- und Dienstleistungsstädten und insbesondere im südbadischen Freiburg entstand ein facettenreiches alternatives Milieu, das sich in Stil, Lebensweise und politischer Wertausrichtung deutlich von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normvorstellungen abhob und letztlich die Basis für die Entstehung und Etablierung der im Januar 1980 in Karlsruhe gegründeten Partei Die Grünen darstellte.

Die Proteste in Wyhl verdeutlichten auch, dass der Widerstand gegen die Kernenergie eine breite, bis in bürgerliche Kreise hineinreichende gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren konnte. Treibende Kraft bei der Bauplatzbesetzung waren Männer und Frauen aus der Region, aktiviert aus Sorge um die eigenen Lebensgrundlagen und enttäuscht von der eigenen Landesregierung. Hinzu kamen Akademiker und Studierende, häufig zunächst aus Freiburg, die nach den Erfahrungen der Studentenunruhen weit stärker auch aus politischen Motiven handelten. Angesichts dieser regionalen Allianz schlugen jedoch sämtliche Versuche der Politik in Stuttgart, die Atomkraftgegner als zugereiste Radikale und prinzipielle Systemgegner zu diffamieren, schon im Ansatz fehl.

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Vielschichtige Motivlagen der Aktivisten

Vielschichtig bleiben letztlich die grundlegenden Motivlagen der Aktivisten. Sicherlich umfassten die Aktionen der Anti-Atomkraft- und der Umweltschutzbewegung gerade in den Anfangsjahren immer auch zivilisationskritische Aspekte. Protestiert wurde trotz aller regionalen Anlässe und Besonderheiten auch gegen die technik- und fortschrittsgläubige Grundeinstellung in den westlichen Gesellschaften. Entgegengestellt wurde dem Kult des Machens und Habens eine Kultur des Seins, der umfassenden Reflexion und selbstbestimmten Beteiligung.

Man mag es begrüßen oder beklagen – die Protestkultur der 1970er-Jahre trägt Züge einer romantischen Gegenbewegung angesichts der damals noch ungebrochenen und weithin unhinterfragten Rationalitäten der auf Wachstum und Fortschritt programmierten modernen Industriegesellschaft. Ob mit diesem Protest tatsächlich die in der Bewegungsliteratur vielfach herausgestellte eigentliche Demokratisierung Deutschlands und ein Aufbruch in eine andere Gesellschaft gelang, mag umstritten sein. Nicht von der Hand zu weisen ist freilich, dass die „romantische“ Technikskepsis der Anti-Atomkraftbewegung spätestens nach den Katastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 ihre späte Rechtfertigung erhalten hat.

Konkreter stellen sich die Motivlagen der lokalen Atomkraftgegner der ersten Stunde in Wyhl dar. Zunächst handelten sie aus Sorge um ihre Existenzgrundlagen, die Reben und das Ackerland. Überzeugend hat der Historiker Jens Ivo Engels darüber hinaus die Bedeutung von Heimat – ihrer Bewahrung, Verteidigung und Selbstvergewisserung – als wirkungsvolles Antriebsmoment des Protests der Kaiserstühler Bevölkerung herausgearbeitet. Flugblätter, Kampflieder und frühe Bilanzen regionaler Autoren stellen den Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk immer wieder in eine Reihe mit den Bauernkriegen und der vom Großherzogtum Baden ausgehenden Revolution von 1848. Unterstrichen wird der regionale Bezug durch die demonstrative Herausstellung des Alemannischen und den Schulterschluss mit den ebenfalls zum alemannischen Volksstamm zählenden Elsässern in Frankreich und – bereits mit Abstrichen – den Nordschweizern. „Nai hämmer gsait!“ steht aus dieser Perspektive auch für Selbstbehauptung, Heimatsicherung, alemannische Identität und Solidarität sowie gegen die historisch häufig erfahrene Fremdbestimmung, diesmal aus der schwäbischen Landeshauptstadt Stuttgart.

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Was ist geblieben?

Was bleibt nun knapp 40 Jahre später? In Wyhl selbst und rund um den Kaiserstuhl erinnert kaum mehr etwas an diese ereignisreichen, ungewöhnlichen Monate im Jahr 1975, kaum Mahnmale – das auffälligste sicherlich in Niederrotweil – und erst recht keine regelmäßigen öffentlichen Festivitäten. Bei den Ausführungen zur über tausendjährigen Geschichte Wyhls auf der offiziellen Homepage der Gemeinde findet der erfolgreiche Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk keine Erwähnung. Und auch die ehemaligen Aktivisten legten in der Folgezeit eine erstaunliche öffentliche Zurückhaltung an den Tag, bedenkt man die überregionale Bedeutung der monatelangen Bauplatzbesetzung. Die allermeisten Landwirte und Winzer wandten sich schon bald wieder ihrer eigentlichen Arbeit zu. Die Normalität ist rasch zurückgekehrt. Der Widerstand war Neuland gewesen und hatte Kraft gekostet. Die im Widerstand aufgebrochenen lokalen Konflikte in Wyhl und mit den Nachbargemeinden mussten im Interesse eines weiteren Miteinanders befriedet werden.

Vordergründig ist die Region wieder zu der Provinz geworden, die sie vor der Ausweisung des Bauplatzes für ein Atomkraftwerk war. Ein Zentrum der Kapitalismuskritik ist hier nicht entstanden und der Aufbruch in eine neue Gesellschaft lässt hier nicht zuletzt angesichts manch rechtsextremer jugendlicher Umtriebe, wie sie auch in anderen ländlichen Regionen zu beobachten sind, weiter auf sich warten. Veränderungen werden erst auf den zweiten Blick erkennbar, etwa im hohen Stellenwert, der dem ökologischen Landbau beigemessen wird oder auch in der Tatsache, dass die Grünen in der Region Südlicher Oberrhein meist deutlich besser abschneiden als in anderen ländlichen Regionen Baden-Württembergs. Die hohe Sensibilität für Umweltfragen hat sich erhalten. Und am Ostermontag 2011, gut einen Monat nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima, haben Tausende erneut ihre alten Fahnen ausgepackt, die frühere Protestatmosphäre wiederbelebt und wie in alten Zeiten an den Rheinbrücken demonstriert – diesmal gegen das französische Atomkraftwerk Fessenheim.

Freiburg und sein grün-alternatives Milieu

Weit offensichtlicher verliefen die Entwicklungen in der nahegelegenen Universitätsstadt Freiburg. Ab Mitte der 1970er-Jahre hat sich stadtteilbezogen ein grün-alternatives Milieu verfestigt, kulturell getragen von einer breit aufgefächerten Bewegungslandschaft. Grüne und links-alternative Listen fanden hier ideale kommunalpolitische Ausgangsbedingungen.

Rasant erfolgte der Aufstieg der Grünen in der Stadt mit früher vorwiegend christdemokratischen Mehrheiten. Inzwischen stellen die Grünen im Gemeinderat die stärkste Fraktion und 2002 wurde Dieter Salomon zum ersten grünen Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt mit mehr als 200 000 Einwohnern gewählt. Bei der Landtagswahl 2011, die den Grünen einen fulminanten Wahlsieg und Winfried Kretschmann als erstem Grünen in Deutschland das Amt des Ministerpräsidenten einbrachte, erzielten Bündnis 90 / Die Grünen im Stadtkreis Freiburg mit 43,0 Prozent ein fast genauso hohes Ergebnis wie SPD (23,5 %) und CDU (21,5 %) zusammen.

Die Grünen haben derzeit nicht nur in Südbaden alle Chancen, die Grenzen ihres Ursprungsmilieus dauerhaft zu überschreiten und sich zur Volkspartei weiterzuentwickeln. Positiv wirkte sich der Aufschwung der Umwelttechnologien auf die regionale Wirtschaftsstruktur rund um Freiburg aus. In Kooperation mit der Universität und weiteren renommierten Forschungseinrichtungen konnte sich die Region in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem weltweit Beachtung findenden Zentrum für erneuerbare Energien und insbesondere für Solartechnologien entwickeln.

Inzwischen ist die „SolarRegion Freiburg“ auf allen wichtigen Fachmessen vertreten. Etwa 2000 Firmen der Umwelt- und Solarbranche bieten derzeit in dieser traditionell industrieschwachen Region zukunftsträchtige Arbeitsplätze an – Tendenz weiter steigend. Offenkundig wird hier, dass die generelle Gleichsetzung von Umweltbewusstsein und Technikfeindlichkeit nicht aufgeht, dass ökologisches Denken sehr wohl die Suche nach neuen Technologien befördern und damit die Wettbewerbsfähigkeit im Markt sichern kann.

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Demokratietheoretische Einordnung

Bleibt abschließend noch die Frage nach den Möglichkeiten einer demokratietheoretischen Einordnung des zivilen Widerstands in Wyhl. Die Funktionsfähigkeit und Stabilität von Demokratien beruht entscheidend auf der Bereitschaft aller Beteiligten zum Konsens oder Kompromiss. Da es in pluralistischen Demokratien für richtige oder falsche politische Entscheidungen keine absoluten Maßstäbe geben kann – und auch in Diktaturen letztlich nur willkürliche Maßstäbe rücksichtslos durchgesetzt werden –, erwächst die Legitimität politischer Entscheidungen aus der Transparenz, Berechenbarkeit und Fairness der zugrunde gelegten Verfahren. Verfahrens- und damit Rechtssicherheit ist ein unverzichtbares Merkmal westlicher Demokratien.

Nun ist offensichtlich, dass sich die kompromisslose Forderung der Wyhler Atomkraftgegner „Nai hämmer gsait!“ der Bereitschaft zum Kompromiss entzieht. Hinzu kommt, dass die Besetzung des Bauplatzes das gerichtlich überprüfte Recht des Landes auf Fortführung der Bauarbeiten massiv beeinträchtigte, wenn nicht außer Kraft setzte. Die demokratisch geforderte Rechtssicherheit ist unversehens in einen Gegensatz zum zweiten Grundpfeiler von Demokratien geraten, nämlich zur Akzeptanz der Entscheidungen durch die Betroffenen. Ein kurzer Blick auf „Stuttgart 21“ – dem zentralen baden-württembergischen Konflikt der Gegenwart – verdeutlicht, dass diese Überlegungen keineswegs ein akademisches Glasperlenspiel sind. Auch dort steht das juristisch abgesicherte Recht der Bahn zum Weiterbau des Tiefbahnhofs der fehlenden Akzeptanz bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber.

Wie viel Kompromisslosigkeit, wie viel Gesinnungsethik (Max Weber) verträgt nun aber eine Demokratie? Es ist ein bleibendes Verdienst der Anti-Atomkraftbewegung, diese zentrale demokratietheoretische Frage auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Man kann mit guten moralischen Gründen die Position vertreten, dass die formale Rechtsstaatlichkeit in besonderen Ausnahmesituationen, etwa bei lebensbedrohenden Konsequenzen, hintan zu stehen hat. Ganz sicher unterliegt man hierbei aber im Einzelfall einer umfassenden Rechtfertigungspflicht. Und die fällt beim Bau eines Atomkraftwerks wesentlich leichter als beim Bau eines unterirdischen Bahnhofs.

Für den demokratischen Alltag hingegen gelten die üblichen Verfahren des Vergleichs und der Kompromissfindung. Inzwischen geschieht dies aufgrund der erfolgten Professionalisierung der sozialen Bewegungen zunächst weitgehend ohne größere Massenmobilisierung vor allem nach den Gesetzen des politischen Lobbyismus. So bleibt der zivile Widerstand die letztverbliebene, legitime Handlungsreserve – die „ultima ratio“ – für Fälle, in denen die Durchsetzung der formalen Rechtsstaatlichkeit mit womöglich unzumutbaren Konsequenzen für die Betroffenen verbunden ist.

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Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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