Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg

Aufgaben, Entstehung und Bedeutung

Neben Parlament (Legislative) und Regierung (Exekutive) hat Baden-Württemberg als Bundesland und als dritter Säule der Gewaltenteilung (Judikative) auch ein eigenständiges oberstes Verfassungsgericht. Zwar steht der Verfassungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg (Verfgh) in der öffentlichen Wahrnehmung eher im Schatten seines „großen Bruders“, des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Doch diese Wahrnehmung täuscht bisweilen. 

Die Geschichte von Baden-Württemberg ist maßgeblich mit zahlreichen Urteilen des höchsten baden-württembergischen Gerichts verwoben. Wie die Verfassungsgerichte anderer Bundesländer auch, ist es zentral in der Verfassung des Landes verankert. Der Verfassungsgerichtshof regelt eventuelle Unstimmigkeiten zwischen der Verwaltung und politischen Akteuren, seit 2013 auch die Belange der Bürgerinnen und Bürger. Warum ist er, der bis 2015 „Staatsgerichtshof“ hieß, so bedeutend?

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Kurz & knapp: Verfassungsgerichtshof

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Welche Aufgaben hat das Gericht?

Oftmals wenn es um die Rechte und Pflichten von politischen Parteien, von Verwaltung oder von Bürgerinnen und Bürgern in Baden-Württemberg geht, spielt der Verfassungsgerichtshof in Stuttgart eine Rolle. Das Gericht übernimmt verschiedene Aufgaben und regelt, wie die einzelnen Artikel der Landesverfassung von Baden-Württemberg auszulegen sind.

So entscheidet er bei Kompetenzstreitigkeiten zwischen verschiedenen Akteuren, über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans und er prüft, ob die Gesetze der Landesregierung mit der Landesverfassung vereinbar sind. Wenn ein Ministerpräsident, ein Minister, andere verfassungsorgane oder einzelne Parlamentarier grob gegen das Recht verstoßen, kann das Gericht sie sogar ihren Ämtern entheben. Bei Landtagswahlen hat es bei Wahlprüfungen das letzte Wort. Die Richterinnen und Richter können Volksabstimmungen verbieten, wenn sie andere Rechte höher einstufen, und sie entscheiden darüber, ob Verwaltungen und politische Organe gegen Rechte der Bürgerinnen und Bürger verstoßen. Wie bei anderen Gerichten auch, wird der Verfassungsgerichtshof dabei nur dann tätig, wenn Personen oder staatliche Akteure ihn anrufen, also vor Gericht Klage einlegen. 

Seit ihrer Einführung im Jahr 2013 hat sich vor allem die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde von Bürgerinnen und Bürgern zum Schwerpunkt der gerichtlichen Aufgaben entwickelt. Allein in der 15. Wahlperiode (2011–2016) mussten die Richterinnen und Richter 59 Entscheidungen treffen. Zum Vergleich: Bis 2017 hatte das Gericht in seiner Geschichte insgesamt knapp 260 Urteile gesprochen, davon mehr als hundert in den 1970er-Jahren, als es in Zusammenhang mit den großen Verwaltungs- und Gebietsreformen um das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden ging. Mit der Einführung der Individualklage wird sich der Arbeitsumfang und damit auch die öffentliche Sichtbarkeit des Gerichts auch in Zukunft weiter erhöhen.

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Wie ist der Verfassungsgerichtshof organisiert?

Der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg ist ein zentraler Akteur in der Gewaltenteilung des Landes. Das Gericht hat die Stellung eines Verfassungsorgans, seine Rechte und Pflichten sind in der Landesverfassung festgeschrieben, sein Status als „Hüter der Verfassung“ ist weithin anerkannt. So wie auch die Landesregierung oder das Parlament ist das Gericht gegenüber anderen Verfassungsorganen unabhängig und verfügt über ein eigenes Budget. Laut dem Staatshaushaltsplan des Landes 2020 lag dieses bei knapp 500.000 Euro und 1,5 Beamtenstellen. 

Neun Richterinnen und Richter

Herzstück des Gerichts sind die neun Richterinnen und Richter, die vom Landtag mit einfacher Mehrheit für neun Jahre gewählt werden. Auch Wiederwahlen sind möglich. Untereinander sind die Richterinnen und Richter unabhängig. Der Präsident ist dabei nicht Vorgesetzter der anderen Mitglieder, sondern ein „primus inter pares“. Er führt die Geschäfte des Gerichts und leitet die Verhandlungen. Auch bestimmt der Präsident die Berichterstatter, die für einen bestimmten Fall zuständig sind. 

Um die Urteilsfindung möglichst objektiv zu gestalten, sieht die Landesverfassung drei unterschiedliche Gruppen von Richterinnen und Richtern vor: So müssen drei Richterinnen und Richter bei der Besetzung Berufsrichter sein, drei müssen eine Befähigung zum Richteramt haben und drei sind sogenannte Laienrichter. Besonders das Laienelement verweist auf den Anspruch, dass bei der Urteilsfindung der „gesunde Menschenverstand“ genauso wichtig ist wie die juristische Fachexpertise. 

In der Regel arbeitet keiner der neun Richterinnen und Richter „nur“ am Verfassungsgerichtshof. Viele bestreiten entweder als Richterinnen und Richter an anderen Gerichten oder in anderen Berufen ihren Lebensunterhalt. Nur politische Funktionen dürfen sie parallel nicht ausfüllen, dürfen also nicht gleichzeitig Regierungsmitglieder oder politische Beamte sein. 

Das Gericht entscheidet auf Basis der Landesverfassung 

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es neben dem Grundgesetz auch 16 Verfassungen der Bundesländer. Der Grund ist der föderale Aufbau der Republik mit 16 Ländern, mit jeweils einem eigenen Parlament, einer Regierung und einem Verfassungsgericht. Dieses urteilt auf Basis der jeweiligen Landesverfassung. 

Im Wesentlichen unterscheiden sich die Landesverfassungen nicht vom Grundgesetz. Im Konfliktfall stehen jedoch die Gesetze des Bundes über denen der Länder (GG Art. 31). Das Grundgesetz sieht außerdem vor, dass die Landesverfassungen „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ entsprechen müssen (GG Art 28). Darüber hinaus gibt es innerhalb dieses Rahmens auch Unterschiede. So verfügen Länder wie Baden-Württemberg über Elemente der direkten Demokratie und über Wahlgesetze, die sich von anderen Ländern unterscheiden. Auch diese Besonderheiten regeln die Landesverfassungen.
 

Dossier: Die Landesverfassung Baden-Württembergs

Am 11. November 1953 wurde die Landesverfassung Baden-Württembergs von der Verfassungsgebenden Landesversammlung mit 102 Stimmen gegen fünf Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen angenommen. Am 19. November 1953, Punkt 9 Uhr, trat sie in Kraft.
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Wie ist der Verfassungsgerichtshof entstanden?

Die Tradition einer Staatsgerichtsbarkeit reicht im Südwesten bis in das 19. Jahrhundert zurück. 1819 richtete das Königreich Württemberg mit seiner Verfassung auch eine Institution „zum gerichtlichen Schutz der Verfassung ein“, einer Art Vorläufer des Verfassungsgerichts. Schon damals sollte das Gericht Streitigkeiten zwischen staatlichen Organen klären. Wichtige Weiterentwicklungen fanden in den Kleinstaaten auch während der Weimarer Republik mit den Verfassungen der Länder Baden und Württemberg von 1919 statt. Vor allem die Prüfung von Wahlen und Mandaten waren wichtige Neuerungen. 

Der Verfassungsgerichtshof in seiner modernen Form entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Mischung aus Fusion und Neugründung. 1952 schlossen sich die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern zum neuen Bundesland Baden-Württemberg zusammen. Mit dem „Überleitungsgesetz“ vom 15. Mai desselben Jahres gründete die Verfassunggebende Landesversammlung auch einen „vorläufigen Staatsgerichtshof“. Offiziell in Kraft trat dieser dann zusammen mit der Verfassung des Landes am 19. November 1953. Im Artikel 68, Abs. 1 der Landesverfassung heißt es dazu kurz und knapp: „Es wird ein Verfassungsgerichtshof gebildet.“

Vom Staatsgerichtshof zum Verfassungsgerichtshof

Die Weiterentwicklung des Gerichts ist im Wesentlichen auf die Veränderungen der Landesverfassung zurückzuführen. Seit Inkrafttreten 1953 wurde sie über zwanzigmal geändert. Alleine viermal wurden die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung erweitert. Eine für den Verfassungsgerichtshof bedeutende Änderung stammt von 2013. Mit der damaligen Einführung der Landesverfassungsbeschwerde („Individualklage“) können alle Bürgerinnen und Bürger die sie betreffenden Landesgesetze, Verordnungen und Gerichtsentscheidungen daraufhin überprüfen lassen, ob sie gegen die Landesverfassung verstoßen. Für den damaligen Präsidenten des Gerichts, Eberhard Stilz, war die Weiterentwicklung nötig, weil auch die Landesverfassung eigene Grundrechte kenne. Er betonte damals zudem Grundsätzliches: „Wenn wir dem Bürger das Recht vorenthalten, gegen Verfassungsverstöße in diesem Land selbst Verfassungsbeschwerde einlegen zu können, nehmen wir die Verfassung oder den Bürger nicht ernst.“

Um die Möglichkeit der Individualklage zu unterstreichen, änderte das Landesparlament 2015 außerdem den Gerichtsnamen. Die Richterinnen und Richter hatten vorher darauf bestanden, die Institution von „Staatsgerichtshof“ in „Verfassungsgerichtshof“ umzubenennen. Der traditionelle Name des Gerichts stamme aus einer Zeit, als das Organ „ausschließlich für staatsinterne Vorgänge“ zuständig gewesen sei. Außerdem könne er als irreführend empfunden werden, sagte damals der Stellvertretende Präsident Franz-Christian Mattes. Der neue Name bringe den Schutz der Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern besser zum Ausdruck.

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Besteht eine Zusammenarbeit mit anderen Gerichten?

Zusammenarbeit mit dem Bundesverfassungsgericht

Während das Bundesverfassungsgesetz seine Urteile auf Basis des Grundgesetzes fällt, urteilen die Verfassungsgerichtshöfe der Länder auf Grundlage ihrer jeweiligen Landesverfassung. Dabei stehen alle Gerichte selbständig nebeneinander und urteilen in den Bereichen, für die sie zuständig sind. So regelt ein Verfassungsgericht der Länder den Kompetenzstreit zwischen einem Landesparlament und einer Landesregierung, aber den Streit zwischen einem Landesgesetz und einem Bundesgesetz entscheidet das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Die Verfassungsgerichte der Länder arbeiten aber auch zusammen. Bei der Entscheidungsfindung kann es vorkommen, dass ein Verfassungsgerichtshof anders entscheiden will als andere Gerichte oder als das Bundesverfassungsgericht, weil zum Beispiel in einem Fall sich die wirtschaftlichen und sozialen Umstände mit den Jahren verändert haben. In diesem Fall können die Gerichte der Länder eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen (GG 100, 3) und für Klarheit sorgen. Im Sinne der Normenhierarchie, die in Art. 31 des Grundgesetzes verankert ist, gilt dabei: Bundesrecht bricht Landesrecht. Gesetze des Bundes haben demnach Vorrang vor den Gesetzen der Länder.

Dossier: 70 Jahre Bundesverfassungsgericht (1951–2021)

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat vor vor siebzig Jahren mit seiner Arbeit begonnen. Aber was genau sind die Aufgaben des Gerichts? Wie ist es organisiert? Warum ist der Sitz in Karlsruhe? Und welche wichtigen Urteile wurden dort erlassen?
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Zusammenarbeit mit anderen Gerichten der EU

Die Verfassungsgerichte der Länder agieren in einem Gerichtsverbund mit den Gerichten anderer Bundesländer, Staaten und Organisationen. So sind für den Schutz der Bürgerrechte in Deutschland vier Gerichte verantwortlich: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der Europäische Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und das Verfassungsgericht des jeweiligen Landes. 

Was auf den ersten Blick redundant anmutet, wird von Fachleuten zumeist mit Wohlwollen bewertet. So erkennen manche eine Art Arbeitsteilung, die den Umfang der Beschwerden für ein einzelnes Gericht reduziert. Nicht zu unterschätzen sind auch traditionelle und historische Unterschiede, die sich in regionalen Rechten gründen. So sind die eher ausgeweiteten Rechte auf Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene einklagbar. Für die ostdeutschen Bundesländer sind hingegen erweiterte Sozialrechte wichtig, abgeleitet aus den historischen Erfahrung der DDR-Vergangenheit. Die verantwortlichen Richter tauschen sich aus, in ihren Entscheidungen berufen sie sich auf die europäischen Urteilsbegründungen und machen in der Regel regionale Unterschiede deutlich. Das Diktum einer „babylonischen Vielstimmigkeit“ der Verfassungsgerichte in Europa wird in der Wissenschaft deshalb oft umgedeutet in eine „Verfassungsgerichtsbarkeit für ein vielstimmiges Babylon“.

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Interview mit dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Malte Graßhof

Bei dem Wort „Verfassungsgericht“ denken viele an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Aber auch Baden-Württemberg hat als dritte Säule der Gewaltenteilung – neben Parlament und Regierung – ein eigenständiges Verfassungsgericht. Der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg ist ein selbständiges und unabhängiges Verfassungsorgan, das über die Auslegung der Landesverfassung entscheidet. Über seine Bedeutung und seine Aufgaben haben wir im Mai 2021 mit Professor Dr. Malte Graßhoff gesprochen, dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg.

Professor Dr. Malte Graßhof (geb. 1970) ist seit April 2018 Präsident des Verwaltungsgerichts Stuttgart und seit Juli 2018 zugleich Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg. Der promovierte Jurist, Honorarprofessor der Universität Tübingen und ranghöchste Richter des Landes Baden-Württemberg hat zahlreiche berufliche Stationen durchlaufen. Er war am Verwaltungsgericht Sigmaringen, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, im Justizministerium Baden-Württemberg, am Verwaltungsgerichtshof des Landes in Mannheim sowie im Rahmen der Zweiten Föderalismuskommission im Staatsministerium tätig, bevor er 2013 Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Karlsruhe und 2016 Präsident des Verwaltungsgerichts Sigmaringen wurde. 2018 folgte der Wechsel nach Stuttgart. Sein Hauptwohnsitz ist Heidelberg. 

Herr Professor Graßhof, das Amt als Präsident des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg ist ein Wahlehrenamt. Wie kommt man zu solch einem hohen Amt und bedeutet „Wahlehrenamt“, dass es sich dabei um einen Teilzeitjob handelt?
Der Landtag wählt die Verfassungsrichterinnen und -richter des Landes und damit auch den Präsidenten. Es gibt eine Vorgabe: Der Präsident muss gleichzeitig Berufsrichter sein. In der Praxis wurden bislang häufig Gerichtspräsidenten gewählt; außerdem besitzt die Verwaltungsgerichtsbarkeit, der ich angehöre, eine fachliche Nähe zum Verfassungsrecht. Ich selbst habe mich auch während meiner sonstigen Stationen nebenbei wissenschaftlich mit dem Verfassungsrecht beschäftigt. In der Praxis haben sich die Fraktionen im Landtag außerdem darauf geeinigt, die Wahlvorschläge entsprechend ihrer Stärke im Landtag zu machen. So bin ich von der CDU-Fraktion vorgeschlagen, aber dann von einer ganz breiten Mehrheit der Abgeordneten gewählt worden. Denn die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs haben kein politisches Amt: Wir sind nur dem Recht verpflichtet und politische Argumente haben bei uns nichts zu suchen!
Wir sind zudem alle ehrenamtlich tätig, das heißt wir widmen uns diesem Amt neben unserem Hauptberuf. Das ist oft fordernd, weil wir uns mit komplexen und aufwändigen Verfahren beschäftigen. Für mich bedeutet das auch, dass ich tatsächlich zwei Gerichte gleichzeitig leite: das große Verwaltungsgericht Stuttgart mit derzeit rund 80 Richterinnen und Richtern und etwa 70 weiteren Gerichtsangehörigen sowie den kleinen Verfassungsgerichtshof mit insgesamt neun ehrenamtlich tätigen Richterinnen und Richtern, drei Kolleginnen in der Gerichtsverwaltung und vier festen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – höchstqualifizierte Richterinnen und Richter, die vorübergehend zu uns abgeordnet sind. Wenigstens befinden sich beide Gerichte in derselben Stadt!

Was sind denn die wichtigsten Unterschiede zwischen dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg und seinem „großen Bruder“, dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe?
Zunächst: Der „große Bruder“ Karlsruhe ist deutlich größer. 16 hauptamtliche Richterinnen und Richter, die jeweils von vier wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt werden, eine entsprechend große Gerichtsverwaltung, außerdem eine phantastische juristische Bibliothek und das vielleicht schönste Gerichtsgebäude Deutschlands – damit können wir uns nicht vergleichen. Aber das ist auch völlig in Ordnung, denn unser Zuständigkeitsbereich ist deutlich kleiner. Im Wesentlichen befassen wir uns mit Streitigkeiten innerhalb des Verfassungsraums des Landes, also etwa zwischen Landtag und Landesregierung oder zwischen einem Abgeordneten und dem Landtag. Und wir sind für Landesverfassungsbeschwerden zuständig, mit denen aber nur die Verletzung eines Landesgrundrechts durch das Land gerügt werden kann, etwa durch ein Landesgesetz. 

Haben sich die Aufgaben des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den letzten Jahren verändert – und wenn ja, welche Gründe gibt es dafür?
Die wichtigste Veränderung war die Einführung der Landesverfassungsbeschwerde im Jahr 2013. Vorher konnte der Verfassungsgerichtshof von den Bürgerinnen und Bürgern des Landes praktisch nicht direkt angerufen werden. Seitdem kann gegen Gerichtsentscheidungen, gegen die kein Rechtsmittel zu Bundesgerichten besteht, die Landesverfassungsbeschwerde erhoben werden, unter bestimmten Umständen auch direkt gegen Landesgesetze. Die Zahl der Verfahren hat sich dadurch deutlich erhöht: Vorher waren es jährlich nur eine Handvoll, im Jahr 2020 knapp 130. Erst seit 2013 verfügt der Verfassungsgerichtshof auch über eigene Räumlichkeiten und eigenes, ständiges Personal.

Können Sie uns bitte zwei Urteile des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg nennen, die Sie persönlich als die wichtigsten der letzten Jahre erachten?
In der letzten Legislaturperiode (2011–2016) ging es im Landtag zeitweise etwas unruhig zu, Äußerungen neuer Abgeordneter im Landtag führten zu Ordnungsmitteln durch die Landtagspräsidentin und ihre Stellvertreterin, bis hin zum Ausschluss aus Landtagssitzungen. In mehreren Entscheidungen ging es daher darum, das richtige Verhältnis zwischen dem Abgeordnetenrecht auf der einen und dem Interesse an einer geordneten Sitzung des Landtags auf der anderen Seite zu finden. Von grundsätzlicher Bedeutung war dabei vor allem das erste Urteil vom 24. Juni 2019, mit dem wir die Ordnungsmaßnahmen der Landtagspräsidentin gegen zwei Abgeordnete verfassungsrechtlich bestätigten (1 GR 1/19 u. 2/19). 
Von über das Land hinausgehender Bedeutung war das Urteil vom 9. November 2020, mit dem der Verfassungsgerichtshof im Vorfeld der letzten Landtagswahl feststellte, dass angesichts der Auswirkungen der Sars-CoV-2-Pandemie die Anzahl der notwendigen Unterstützungsvorschriften für einen Wahlvorschlag zu hoch waren (1 GR 101/20). Unserer Entscheidung schloss sich vier Monate später der Berliner Verfassungsgerichtshof im Wesentlichen an; sicherlich auch als Folge dieser beiden Entscheidungen hat jetzt auch der Bundesgesetzgeber für die anstehende Wahl des Bundestags die entsprechenden Regelungen an die Pandemiebedingungen angepasst. 

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg steht nur selten im Fokus der öffentlichen und medialen Wahrnehmung. Warum ist das so?
Über Gerichte wird in der Regel nur gesprochen, wenn sie kontroverse Entscheidungen fällen; das setzt wiederum entsprechende Streitigkeiten voraus, die vor Gericht ausgetragen werden. Alles in allem geht es aber hier im „Ländle“ durchaus eher ruhig zu. Natürlich gibt es Streit und auch Skandale, aber in der Summe vielleicht doch weniger häufig als anderswo. Und wenn dann einmal der Verfassungsgerichtshof entscheiden muss, scheinen seine Urteile insgesamt auf Zustimmung zu stoßen und nicht selbst noch einmal Anlass zu Auseinandersetzungen zu geben. Vielleicht ist es ein Indiz für die Stabilität und Funktionskraft eines demokratischen Gemeinwesens, wenn seine Gerichte nicht zu sehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. 

Sowohl in der Politik als auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit gewinnt die Europäisierung an Bedeutung. Welche Rolle spielt diese Tendenz für Sie bei der Gesetzesüberprüfung und Urteilsfindung durch den Verfassungsgerichtshof des Landes?
Als Verfassungsgerichtshof des Landes sind wir auch Bestandteil eines europäischen Verfassungsgerichtsverbundes, der aber natürlich in erster Linie von den nationalstaatlichen Verfassungsgerichten, also bei uns das Bundesverfassungsgericht, von dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geprägt wird. Jüngst haben wir uns etwa intensiv mit der Rechtsprechung des EGMR zur Frage beschäftigt, welche verfahrensrechtlichen Anforderungen an Ordnungsmaßnahmen in einem Parlament zu stellen sind. 
Verfassungsrecht kann nicht mehr rein national verstanden werden; daher ist mir auch der persönliche internationale Austausch über die Grenzen hinweg wichtig. Vor Ausbruch der Pandemie haben häufig Verfassungsgerichte anderer Länder den Verfassungsgerichtshof in Stuttgart besucht – Delegationen unter anderem aus China, der Kirgisischen Republik, Tunesien, dem Libanon und Kuweit waren bei uns zu Gast. Solche Begegnungen vermisse ich im Augenblick sehr und ich hoffe, dass sie bald wieder möglich sein werden.
 

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Warum ist das öffentliche Interesse an den Entscheidungen des Gerichts eher gering?

Dass die Entscheidungen des „großen Bruders“ aus Karlsruhe die Urteile der Landesverfassungsgerichte überstrahlen, steht außer Frage. Zu komplex sind die verhandelten Themen, die sich vor allem bis 2013 um Angelegenheiten der Verwaltungen drehten und die unmittelbaren täglichen Belange und Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern nicht betrafen. Auch der geringe Anteil der Politik an der Entscheidungsbegründung mag die unaufgeregte Berichterstattung über die Urteile erklären. 

Nur selten, wie etwa im Falle des Kaufs der EnBW-Aktien (2010), haben Entscheidungen Einfluss auf die Parteipolitik. Der Politikwissenschaftler Marcus Obrecht sieht auch den auf Konsens ausgerichteten Entscheidungsmodus als Grund für das geringe Medieninteresse: „Bei den Verhandlungen geht es nach Aussage eines Beteiligten um argumentative Überzeugungen, wobei der widerstreitende juristische Sachverhalt in Konsens mündet“, schreibt er. Nicht selten wird der Charakter des Gerichts daher als präventiv und mäßigend bezeichnet. Das Gericht funktioniere „nach dem Prinzip einer englischen Schutzflotte“, sagte der ehemalige Gerichtspräsident Eberhard Stilz. Es reiche schon weithin, dass es da ist, dass man weiß, es könnte eingreifen.

Welche bedeutenden Entscheidungen gab es?

Im Folgenden werden beispielhaft fünf Urteile des Verfassungsgerichtshofs des Landes Baden-Württemberg dargestellt.

13.12.1969: Stellung des Parlaments 

Immer wieder beschäftigt sich das Gericht mit Fragen der Wahlen. Die Entscheidungen hatten auch Konsequenzen für das Regierungssystem im Land. So erkannte das Gericht am 13. Dezember 1969 die Vereinbarkeit der meisten Ämter des öffentlichen Dienstes mit dem Abgeordnetenmandat an und stärkte so das Parlament in seiner Form als Teilzeitparlament. Nur knapp sieben Jahre später jedoch rückte das Bundesverfassungsgericht von dieser Konzeption ab und verwies darauf, dass der Gesetzgeber die Vereinbarkeit von Mandat und öffentlichem Amt politisch entscheiden müsse. Dies geschah in Baden-Württemberg erst im Jahr 2008 durch die strikte Unvereinbarkeit von Amt und Mandat. Seither ist der Landtag von Baden-Württemberg ein Vollzeitparlament.

Entscheidung: GR 1/69

6.10.2011: Rückkauf der EnBW-Aktien

Die wahrscheinlich spektakulärste Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs kam ausgerechnet nicht der Opposition, sondern der damaligen Landesregierung zugute. Kurz nach dem Regierungswechsel von CDU/FDP zur ersten grün-roten Koalition von SPD und Grünen im Jahre 2011 urteilte das Gericht gegen die CDU-Regierung – und stürzte so die Partei in eine Krise. Was war geschehen? Der frühere Finanzminister Willi Stächele (CDU) hatte unter Anwendung des Notstandsrechts und im Auftrag von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) für knapp 4,7 Milliarden Euro Aktien des Energieversorgers EnBW erworben und bei der Entscheidung das Landesparlament nicht einbezogen. Dies sei nicht zulässig gewesen, urteilten die Richterinnen und Richter. Das Budgetrecht stelle ein „wirksames Instrument der parlamentarischen Regierungskontrolle“ dar und sei ein „Kernelement der demokratischen Legitimierung und Gewaltenteilung“, hieß es in der Begründung. 

Zum Urteil

24.5.2012: Abstimmung über Stuttgart21 

Im Rahmen der Volksabstimmung über das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ musste das Gericht eine Reihe von Urteilen fällen. Eines der umfangreichsten fand erst nach der Abstimmung statt und sollte die Rechtsgültigkeit des Volksentscheids vom 27. November 2011 klären. 17 Antragsteller hatten moniert, das „S21-Kündigungsgesetz“, das zur Abstimmung stand, verstoße gegen die Verfassung. Auch hätten die Befürworter des Projekts die Bevölkerung über Kosten und die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs belogen. Dem Gericht zufolge seien die Beschwerden jedoch unbegründet. „Lügnerische Wahlpropaganda“ sei demnach im Volksabstimmungsgesetz nicht als Strafbestand erfasst, urteilten die Richterinnen und Richter. Eine freie Willensentscheidung sei bei der Abstimmung möglich gewesen.

Entscheidung: GR 1/11

14.11.2016: Das Hochschulgesetz ist verfassungswidrig 

Mit seiner Entscheidung über das damals neu erlassene Hochschulgesetz stärkte der Verfassungsgerichtshof nach Ansicht vieler Fachleute die Freiheit der Wissenschaft. Die Landesregierung hatte bestimmt, dass bei der Kür der Rektorinnen und Rektoren der Senat und Hochschulrat, in dem auch externe Fachleute aus der Wirtschaft sitzen, gemeinsam bestimmen. Diese Vorgaben würden jedoch die Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrenden verletzen, urteilten die obersten Landesrichter. Bei der Wahl und Abwahl von Rektoren müssten vor allem die Hochschullehrenden entscheidendes Gewicht haben.

Entscheidung: VB 16/15

6.7.2020: Darf die Polizei Abgeordnete aus dem Parlament entfernen? 

Während einer Sitzung des Landesparlaments beschimpfte der parteilose und frühere AfD-Abgeordnete Heinrich Fiechtner mehrmals die Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Diese verwies den Abgeordneten aus dem Saal und schloss ihn auch von fünf weiteren Sitzungen aus. Fiechtner weigerte sich jedoch, den Saal zu verlassen. Daraufhin rief das Parlament die Polizei. Zwei Polizisten packten den Abgeordneten unter den Armen und begleiteten ihn aus dem Saal. Die Bilder des Polizeieinsatzes in einem deutschen Parlament wurden bundesweit zu einem Eklat. Fiechtner klagte beim Verfassungsgerichtshof gegen die Anordnungen der Landtagspräsidentin – doch ohne Erfolg. Gestärkt wurden damit das Landtagspräsidium sowie die Geschäftsordnung des Landtags, die sich der Landtag zu Beginn einer jeden Wahlperiode mit der Mehrheit der Abgeordneten selbst gibt.

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Weiterführende Infos, Literatur und Quellen

Dossier: Rechtsstaat

Was ist ein Rechtsstaat?

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Aber was bedeutet das? Das LpB-Dossier „Was ist ein Rechtsstaat?“ erklärt das Rechtsstaatsprinzip, die Merkmale eines Rechtsstaats und was eigentlich das Gegenteil davon ist.
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Dossier: Landesverfassung Baden-Württemberg

Am 11. November 1953 wurde die Landesverfassung Baden-Württembergs von der Verfassungsgebenden Landesversammlung mit 102 Stimmen gegen fünf Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen angenommen. Am 19. November 1953, Punkt 9 Uhr, trat sie in Kraft.
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Dossier: Bundesverfassungsgericht

1951–2021: 70 Jahre Bundesverfassungsgericht

Vor siebzig Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seiner Arbeit begonnen. Aber was genau sind die Aufgaben des Gerichts? Wie ist es organisiert? Warum ist der Sitz in Karlsruhe? Und welche wichtigen Urteile wurden dort erlassen?
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Literatur

  • Daniela, Maria: Der justizielle Pluralismus der Verfassungsgemeinschaft: „Babylonische Gerichte“ oder „Gerichte für Babylon“?, in: Der Staat 55 (2016), S. 373–391.
  • Feuchte, Paul: Quellen zur Entstehung der Verfassung von Baden-Württemberg, 9 Bde., Stuttgart 1986.
  • Limbach, Jutta: Das Bundesverfassungsgericht, München 2010.
  • Lindner, Josef Franz: Landesverfassungsgerichte und europäische Integration, in: Werner Reutter (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Bundesländern, Wiesbaden 2020, S. 385–400.
  • Obrecht, Marcus: Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg, in: Werner Reutter (Hrsg.): Landesverfassungsgerichte, Wiesbaden 2017, S. 27–51.

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Autor: Internetredaktion LpB BW | letzte Aktualisierung: April 2022

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