Die Auswanderung nach Übersee

Auf der Suche nach wirtschaftlichem Auskommen und politischer Freiheit – Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

In den Vereinigten Staaten von Amerika gehört die auf der Grundlage einer massen­haften Einwanderung erfolgte Besiedlung des Landes zum zentralen Bestandteil der nationalen Identität. Dies manifestiert sich in mindestens zwei zentralen Erinnerungsorten, den Einwandererstationen Castle Garden und Ellis Island in New York sowie zahlreichen weiteren Denkmälern und Kristallisationspunkten der Vergangenheit, darunter auch die Person des „Frontiers“, dem nach „Westen“ wandernden, das weite Land erobernden Kolonisator, der im kollektiven amerikanischen Gedächtnis eine fast mythische Bedeutung einnimmt. In ihr besitzt das Land eine identitätsstiftende Figur, in der sich sein (trügerisches?) Selbstbild einer durch Wage­mut, Veränderungsbereitschaft, Ungebundenheit und geografischen wie mentalen Offenheit geprägten Gesellschaft vereinigt.

Denen, die ein Land verlassen, wird dagegen selten ein Denkmal gesetzt. Dies gilt auch für die Millionen von Deutschen, die vom 18. bis ins 20. Jahrhundert ihr Land aus unterschiedlichen Motiven, freiwillig oder durch politische, soziale oder ökonomische Ursachen gezwungen, verließen. Ihre hinterlassenen Spuren sind rar. Erst seit wenigen Jahren widmet sich das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven der Spurensuche der deutschen Überseewanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Der deutsche Südwesten hat an der Auswanderung einen gewichtigen Anteil – quantitativ wie qualitativ.

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Autor: Kurt Hochstuhl

Der Text von Kurt Hochstuhl erschien unter dem Titel „Die Auswanderung nach Übersee. Auf der Suche nach wirtschaftlichem Auskommen und politischer Freiheit“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Auswanderung – ein Bruch mit dem bisherigen Leben

„Es sieht düster aus […], die Freiheit verhüllt ihr Haupt, und mich zieht es heimwärts […], nach dem Westen Amerikas.“ Der dies im Juli 1848 schrieb, zog durchaus verbittert eine Bilanz seines bisherigen Lebens. Er war vordergründig ein Verlierer,  setzte  allerdings  seine  Hoffnungen  auf  ein  erfüll­teres Leben in der Neuen Welt. Friedrich Hecker, Mannhei­mer Rechtsanwalt, Abgeordneter der Zweiten Kammer des Badischen Landtags und Symbolfigur des republikanischen Liberalismus in Baden, war innerhalb weniger Wochen vom viel  umjubelten  Volkshelden  zum  einflusslosen  politischen  Emigranten in der Schweiz geworden.

Die republikanische „Schilderhebung“,  mit der er im April 1848 sein Herzensanliegen einer sozial gerechten, freien und demokratischen Gesellschaft in Deutschland mit Waffengewalt verwirklichen wollte, war innerhalb weniger Tage kläglich in sich zusammengebrochen. Zur Fahndung ausgeschrieben, von Spitzeln in  seinem  zwischenzeitlichen  Exil  in  der  Schweiz  genauestens observiert, ohne Aussicht auf eine straffreie Rückkehr in seine Heimatstadt Mannheim, hatte Friedrich Hecker also starke Gründe zur Auswanderung.

Dieser Befund trifft auf die meisten derjenigen zu, die ihren heimatlichen  Boden  verließen, um in einer vollkommen neuen Welt einen Neuanfang zu wagen. Die wenigsten gingen freiwillig, aus purer Abenteuerlust, sondern durch die gesell­schaftlichen Verhältnisse in Kombination mit ihren eigenen persönlichen Umständen gezwungen. Für die Meisten gab es nach ihrem Entschluss zur Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts nur ein Land, das für diesen Neuanfang in Frage kam, das Land jenseits des Atlantiks, das schon früh als das der unbegrenzten Möglichkeiten und als emotionale Heimat eines jeden freiheitsliebenden Bürgers angesehen wurde: die Vereinigten Staaten von Amerika.

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Warum Amerika so attraktiv geworden war

Dass dieses Auswanderungsziel so attraktiv geworden war, hatte mehrere Ursachen. Die Anziehungskraft der traditionellen Auswandererländer der zurückliegenden Jahrzehnte, Polen, Russland und vor allem die Siedlungsgebiete an der mittleren und unteren Donau, im Banat und Siebenbürgen, hatte merklich nachgelassen. Der Bedarf an Einwanderern war dort vorerst gedeckt. Folgerichtig wurden auch die Einwanderungsbedingungen sukzessive verschärft. Die Zeiten waren damit vorbei, als die Einwanderer die Reisekosten noch ersetzt bekamen oder großzügige Vorschüsse bei ihrer Niederlassung im Zielort erhielten, als die mit Hilfe von Werbekampagnen flächendeckend bekannten „Existenzgründerprogramme“ mit zahlreichen weiteren Vergünstigungen wie Steuerfreiheit und Niederlassungsfreiheit die „Auswanderungslustigen“ aus allen Richtungen anzogen. Die Perspektiven, die die Neue Welt dagegen bot, wurden zunehmend anziehender. Dazu trugen vor allem die verbesserten Reisebedingungen bei.

Eisenbahn und Dampfboot erleichterten den Zugang zum Abfahrtshafen, größere Segelschiffe, Schnellsegler und ab den 1840er-Jahren Dampfschiffe befuhren den Atlantik schneller und in dichteren Abständen als je zuvor. Damit verringerte sich die Reisedauer erheblich. War 1834 ein Segelschiff von Bremen nach New York durchschnittlich 50 Tage unterwegs, schafften es zwei Jahrzehnte später die Schnellsegler im günstigsten Fall in drei bis vier Wochen. Sie waren damit genauso rasch am Ziel wie Dampfboote, die auf dieser Strecke rund 21 Tage auf See verbrachten. Die zeitliche Verkürzung der Reise minderte das Risiko des Auswanderungsvorgangs: Wenige Jahrzehnte zuvor waren nicht selten zehn Prozent und mehr der Ausreisewilligen auf dem Weg in ihre neue Heimat den Strapazen der Reise oder den vollkommen unzulänglichen hygienischen Bedingungen an Bord der Schiffe zum Opfer gefallen, besonders hoch war dabei die Kindersterblichkeit gewesen.

Kürzere Reisezeiten und größere Schiffe führten zu einem Rückgang der Reisekosten. Musste ein Erwachsener für die Überfahrt mit Verpflegung von Amsterdam nach New York um 1817 mindestens 170 Gulden entrichten, so kostete eine entsprechende Passage Mitte der 1840er-Jahre noch 50 Gulden. Dazu kam, dass die „Auswanderungslustigen“ auf eine wachsende Fülle verfügbarer Informationen über das Auswanderungsziel zurückgreifen konnten. In den seltensten Fällen beruhte die Kenntnis der Emigranten über die Verhältnisse am Ziel der Auswanderung auf eigener Anschauung und Erfahrung. Sie wurde wesentlich bestimmt durch schriftliche oder mündliche Informationen Dritter. Gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt sich die deutliche Zunahme von Büchern, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen, die sich positiv mit der Auswanderung im Allgemeinen und speziell mit der in die Neue Welt befassen.

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Auch ein lukratives Geschäftsfeld

Eine  wichtige Rolle in diesem immer dichter werdenden Kommunikationsnetz, in dem natürlich die mit hoher Glaubwürdigkeit ausgestatteten Auswandererbriefe von ganz besonderer Bedeutung waren, spielten bis in die Jahrhundert mitte hinein die Auswanderungsvereine, deren erster für den südwestdeutschen Bereich schon 1819 nachweisbar ist, als in Stuttgart eine „amerikanische Kolonisationsgesellschaft“ gegründet wurde.  Im  oberrheinischen  Raum  etablierten  sich  in  den 1830-er ­Jahren  ähnliche  Gesellschaften,  wie  die  „Amerikanische  Colonisations  Gesellschaft  Solms  und  Compagnie  in Straßburg“, die 1832 die aus sieben Köpfen bestehende Familie des Elgersweierer Landwirts Leonard Kempf für 1423 Francs nicht nur sicher nach Nordamerika verbrachte, sondern die Familie dort auch mit 100 Morgen fruchtbaren Ackerlandes ausstattete – so zumindest die Versprechungen gegenüber der Gemeinde, die einen erheblichen Teil zu den Kosten beisteuern musste.

Dieses „All­-inclusive“­-Angebot ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die Auswanderung als solche zu einem lukrativen Geschäft geworden war, an dem viele mitverdienen wollten – in erster Linie die Auswanderungsagenten, die sehr bald fast flächendeckend  vertreten waren und Auswanderungsverträge an den Mann oder die Frau brachten, nicht selten unter dubiosen Begleiterscheinungen. Klagen über „schwarze Schafe“, die auf dem flachen Land die unbedarften Bewohner mit Versprechungen lockten, ihnen für ihre zugesagten Bemühungen, so beispielsweise für „Übersetzungen“  ihrer  Papiere  ins  Englische,  Vorschüsse  abkassierten und danach nicht mehr gesehen wurden, sind einige in den Archivakten zu finden.

1833  erteilte die badische  Regierung  dem  Freiburger  Auswanderungsagenten Hermann erstmals eine Konzession zur Betreibung des Auswanderungsgeschäftes. Bestandteil dieser Konzession  war  die  Verpflichtung  des  Agenten,  den  Transport badischer Auswanderer von Straßburg über Le Havre nach Nordamerika zu übernehmen, deren Unterhalt sowohl auf der Reise wie auch während des Aufenthalts in der Hafenstadt zu gewährleisten und für entstehende Ausfälle zu haften. Bald offerierten Frankreich und Belgien spezielle Eisenbahntarife inklusive freiem Gepäcktransport für Auswanderer, die auf diese Weise dazu bewogen werden sollten, von Le Havre oder Antwerpen in die Neue Welt zu starten. Damit wollten sowohl Frankreich wie Holland den Transatlantikverkehr der eigenen Häfen subventionieren. 

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Auswanderer als Schiffsladung

Vor allem amerikanische Schiffe steuerten mit ihren Baumwollprodukten besonders gerne die Häfen an, in denen mit einer sicheren Rückfracht, in diesem Falle badische oder württembergische Auswanderer, zu rechnen war. Kaum waren die Laderäume im Zwischen- und Unterdeck gelöscht, wurden roh gezimmerte Stockbetten eingezogen, in denen dann Auswanderer Aufnahme fanden. Deren Verpflegung wurde über die Schiffseigner gestellt, kochen mussten die Auswanderer in der Regel selbst. Wer es sich leisten konnte, wer „Mühe, Streit, [den] Uneinigkeiten [und dem] Hungerleiden […] wegen Mangel an Platz“ aus dem Weg gehen wollte, der konnte Verträge abschließen, bei denen man die „Kost gekocht erhält“, wie es Anton Rebmann aus Lafayette, Indiana, 1865 an seine Tante Kunigunde Geschell in Baltersweil schrieb. Doch dies war die Ausnahme.

Die Mehrzahl der Auswanderer drängte sich in den engen Unterdecks der Frachtschiffe, geplagt von der Seekrankheit und dem Misstrauen gegenüber den ihnen unbekannten Mitreisenden, versuchte ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuhalten und richtete alle ihre Hoffnungen auf die neue Heimat.

Über Le Havre, dann über Bremen und Bremerhaven

Die großzügige Handhabung der Reiseformalitäten, die Tatsache der kürzesten Entfernung zwischen den südwestdeutschen Staaten und einem Atlantikseehafen und die schon früh ausgebaute und durchgehende Eisenbahnverbindung ab Straßburg taten ein übriges, um Le Havre bis in die 1870er- Jahre hinein zum bedeutendsten Auswandererhafen für Badener und Württemberger werden zu lassen. Vor allem in den 50er-Jahren verließen bis zu 60 Prozent der südwestdeutschen Auswanderer über diese Stadt Europa in Richtung Nordamerika. Mit der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfenden Feindschaft zu Frankreich verlor Le Havre seine Bedeutung als südwestdeutscher Auswandererhafen. Er wurde abgelöst von Bremen und Bremerhaven. Sie konnten über die Rheinschifffahrt von Mannheim nach Köln und danach mit der Eisenbahn bald ebenso bequem erreicht werden. Zahlreiche Anzeigen in den Amtsblättern warben dabei für die wie Pilze aus dem Boden schießenden Auswandereragenturen, die bald flächendeckend in Baden und Württemberg vertreten waren.

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Perspektivlos – und daheim unerwünscht

Doch mit Werbung allein, auch wenn sie das neue Heimatland in noch so rosigen Farben schilderte, wurde kaum jemand verleitet, seine bisherige ökonomische Existenz und sein vertrautes soziales und kulturelles Bezugssystem aufzugeben. Denn der Entschluss zur Auswanderung war in den meisten Fällen unwiderruflich, gaben doch die Auswanderer in der Regel neben ihrem Staatsbürgerrecht auch ihr Ortsbürgerrecht und die mit ihm verbundenen sozialen und ökonomischen Rechte auf. Jede Auswanderung musste im Amtsblatt des jeweiligen Bezirks angezeigt werden, um etwaige Gläubiger darüber zu informieren, die ihre Forderungen in der sogenannten Schuldenliquidation anmelden und aus den Erlösen der Grundstücks- und Fahrnisverkäufe befriedigen konnten. Erst nach diesem Akt wurden von der Verwaltung die für die Auswanderung erforderlichen Reisepässe ausgestellt.

Schnell erkannten das Land wie die Kommunen die Chance, die sich ihnen bot. Für die Jahre 1849 und 1850 stellte Baden jeweils 50 000 Gulden zur Unterstützung der Auswanderung aus den Gemeinden zur Verfügung, die den Aufwand für die Armenunterstützung nicht mehr selbst bestreiten konnten. Ganze Gemeinden – so unter anderem die Gemeinde Kniebis im Nordschwarzwald – wurden mit diesen Geldern nach Übersee abtransportiert. Auch die Gemeinden selbst zahlten direkte Zuschüsse, um lästige Bürger los zu werden. Und das waren im wahrsten Sinne des Wortes diejenigen, die der Gesamtheit jetzt oder später zur Last fallen konnten. Die Auswanderung lediger Frauen mit ihren unehelichen Kindern, von Waisen, Arbeitslosen, Proletariern und mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Personen, all derer also, die in den Augen der Ortsobrigkeit entweder „notorisch arm“ oder moralisch-sittlich „verdorben“ waren, wurde zum Teil stark forciert.

Die massive staatliche Einflussnahme, das emsige Treiben der Agenten und selbst die großzügig gewährten Reisezuschüsse der Gemeinden zeitigten jedoch nur dann Erfolg, wenn die „realen oder vermuteten Möglichkeiten im Ursprungsland“ (Wolfgang von Hippel) entsprechend negativ bewertet wurden. Je schlechter man die Gegenwart, vor allem jedoch die Zukunft in der alten Heimat bewertete, je geringer die Chancen eingeschätzt wurden, einen mit den eigenen Erwartungen übereinstimmenden Status zu erreichen, desto niedriger lag die „Wanderungsschwelle“ und desto leichter fiel es, die zwar ungewisse, aber mit großen Hoffnungen verbundene Emigration in eine andere Heimat der unbefriedigend und vor allem perspektivlos empfundenen Situation in der alten Heimat vorzuziehen. Die hier herrschenden ökonomischen, sozialen und/oder politischen Verhältnisse waren die Faktoren, die den Auswanderungsdruck wesentlich bestimmten.

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Auswanderung als „Spiegel der Konjunktur“

In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts nahm dieser Druck auf allen Ebenen zu. Zur allgemeinen sozialen Krise des Pauperismus – geprägt durch Überbevölkerung, dem Zusammenbruch der handwerklichen Sozialstruktur durch das Eindringen billiger englischer Industrieprodukte, daraus resultierender Arbeitslosigkeit und Armut – gesellte sich im Vorfeld der Revolution von 1848 die letzte traditionelle, durch Missernten und Lebensmittelteuerung hervorgerufene Hungerkrise in Mitteleuropa. Den Auswanderungsdruck ungeregelt abfließen zu lassen, wie dies in den Notjahren 1816/17 geschehen war, als sich tausende Auswanderer aufs Geratewohl aufgemacht hatten, um in einer Hafenstadt eine Gelegenheit zur Überfahrt zu bekommen, war angesichts der damaligen niederländischen und französischen Proteste über die zahlreichen mittellosen, sich vom Bettel ernährenden deutschen Auswanderer nicht mehr möglich.

Durch die staatliche Auswandererfürsorge und eine fördernde Auswanderungspolitik wanderten im Jahrzehnt zwischen 1847 und 1857 mehr als 200 000 Personen aus dem deutschen Südwesten nach Nordamerika aus. Darunter auch etwa 5000 Auswanderer, die nach der gescheiterten Badischen Revolution der Jahre 1847 bis 1849 aus politischen Gründen Deutschland verlassen mussten. Auch wenn ihre Zahl angesichts der aus wirtschaftlicher Not auswandernden Personen nicht übermäßig ins Gewicht fiel, befanden sich darunter zum ersten Mal in nennenswerter Zahl Intellektuelle (Mediziner, Rechtsanwälte, Lehrer usw.), von denen bald eine ganze Reihe in ihrer neuen Heimat in einflussreiche Positionen als Akademiker, Techniker, Politiker und Journalisten gelangen sollten.

Als Mitte der 1850er-Jahre in den USA ein deutlicher Konjunkturabschwung erfolgte und zugleich in Deutschland die lang anhaltende wirtschaftliche Krise überwunden werden konnte, nahm die Auswanderung rasch um zwei Drittel ab. Wie sehr sie als feinfühliges Konjunkturbarometer nunmehr für beide Länder anzusehen ist, zeigen die Auswandererzahlen der 1860er- und 1870er-Jahre. Die in Süddeutschland erst nach der Jahrhundertmitte beginnende Industrialisierung stellte nun in genügendem Maße Arbeitsplätze für die wachsende Bevölkerung zur Verfügung; der gleichzeitig in den USA ausgebrochene Bürgerkrieg minderte über lange Jahre die Attraktivität Nordamerikas als Auswanderungsland. Erst mit der Wirtschaftskrise in Deutschland Ende der 1870er-Jahre stiegen die Zahlen wieder an.

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Ankunft in der Neuen Welt, Integration und Assimilation

Den Gefahren des Meeres entronnen, galt es für die meisten Auswanderer, ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft zu finden. Nach der Registrierung, die von 1855 bis 1890 in Castle Garden, einer zur Konzerthalle umgebauten Artilleriefestung in Manhattan, danach ab 1892 auf der New York vorgelagerten Insel Ellis Island zentral vorgenommen wurde, erfolgte deren Abreise an ihre Bestimmungsorte. Die meisten Einwanderer kannten ihr Ziel, standen sie doch in regem Austausch mit bereits ausgewanderten Verwandten oder Angehörigen ihrer ehemaligen Dorfgemeinschaft.

Diese boten nicht nur eine erste Anlaufstelle im neuen Land, sondern hatten sie auch vor den in der neuen Welt lauernden Gefahren gewarnt. Diese drohten dabei sowohl Landsleuten wie den Einheimischen: „Ferner gib Acht zum Geld, denn es werden viele zu dir kommen und sagen ‚Hello Landsmann, wie geht’s‘, und wenn man sich mit so Kerlen gemein macht, so bist du bald ausgeplündert. […] In New York laufe nicht viel auf den Straßen herum, denn wenn sie ein Grünes [= Greenhorn] sehen, das wird am hellen Tag weggeputzt“, so der Bierbrauer Friedrich Knapps aus Leavenworth, Kansas, an seinen Neffen Josef Knapps aus Haslach im Jahre 1881.

Einige wurden von ihren Verwandten im New Yorker Hafen erwartet, während andere mit Eisenbahnbillets, die bei einem der zahlreichen deutschen Gastwirte deponiert worden waren, sich auf die Weiterfahrt in Richtung Westen machten. Die Wenigsten blieben in New York. Wenn, dann suchten sie in „Little Germany“, einem Stadtviertel in der Lower East Side, das fast ausschließlich von deutschen Einwanderern bewohnt wurde und Anfang der 1870er-Jahre rund 170 000 Einwohner umfasste, ihr Auskommen. Das Viertel war über lange Jahrzehnte nicht nur das kulturelle Zentrum der Aktivitäten der deutschstämmigen Bevölkerung New Yorks, sondern bildete mit seinen Biergärten, Vereinen, deutschsprachigen Bibliotheken, Gesangschören, Schulen und Kirchen einen Fokus deutsch-amerikanischer Kultur, der weit über die Stadtgrenzen hinausstrahlte.

Kein Land für Taugenichtse und Faulenzer

Die überwiegend dem bäuerlichen oder handwerklichen Milieu entstammenden südwestdeutschen Auswanderer neigten in ihrer großen Mehrheit allerdings dazu, sich im Westen als Farmer oder im handwerklichen Dienstleistungsbereich niederzulassen. Auch wenn sie sich bevorzugt in jenen Gebieten ansiedelten, in denen sie auf andere Deutsche trafen, akzeptierten sie schnell die Notwendigkeit, die englische Sprache zu erlernen.

Voller Stolz berichteten sie in ihren Briefen ins alte Europa von ihren sprachlichen Fortschritten, die sie sich im Laufe der Jahre im Kontakt mit den amerikanischen Behörden und ihren einheimischen und fremdländischen Nachbarn angeeignet hatten: „Freilich, wie gesagt, ich habe schon über sechs Jahre keine deutsche Predigt gehört. Es macht mir freilich keinen Unterschied, deutsch oder englisch, ich kann mit einer Sprache so gut fort kommen, wie mit der anderen“, so Andreas Rübelmann nach knapp zehnjährigem Aufenthalt in seiner neuen Heimat.

Mit ebenso großem Stolz wurde auch der permanente Zivilisationsprozess geschildert, dem die einstige Wildnis durch die kultivierende Hand der Farmer unterworfen worden war. „Es hat sich viel verändert die Zeit, die wir in dieser Gegend sind. […] Wir haben Schulhäuser und Kirchen, die wir im Anfang, da wir hierher kamen, nicht hatten!“, so ebenfalls Andreas Rübelmann am 18. Februar 1858.

In ihrer überwiegenden Mehrzahl spiegeln die erhaltenen Auswandererbriefe – trotz aller Schilderungen über die Härte des täglichen Lebens – eine Selbstzufriedenheit und Ungebundenheit wider, die sich nur auf der Basis eines selbstbestimmten Lebens entwickeln kann. Amerika, so die Mahnung an alle, die „Lust“ hatten, die Überfahrt zu wagen, war allerdings kein Land für Taugenichtse und Faulenzer. „Arbeiten muss man in Amerika, da heißt es, hilf dir selbst“, so Martin Vogel aus Tiengen im August 1853. Ohne Standesschranken und ohne einen einengenden Obrigkeitsstaat war jedoch Erfolg, so die Botschaft, die zwischen fast allen Zeilen mitschwang, selbst für jene möglich, die noch vor einigen Jahren in ihrer alten Heimat ob ihrer Erfolglosigkeit zur Auswanderung gezwungen gewesen waren: „Es ist besser in Amerika zu wohnen als bei euch.“ Und dafür war nicht alleine der gute Boden mit seinen Erträgen, ein guter Verdienst als Handwerker, Fabrikarbeiter oder Landwirtschaftsgehilfe verantwortlich, sondern weit mehr jenes freie Leben, das ihnen in Deutschland so häufig vorenthalten worden war.

„Geratet es oder fehlt es, kann ein Mann doch sein Leben machen besser als in Deutschland. Da hört man keine Gimpelschelle am Samstag oder Morgen weil Zehntrechner, der Gemeinderechner und alle Teufel Großmutters Geld haben [wollen]. Wenn ihr schon mehr in die Kirche geht als der Amerikaner, so könnt ihr doch keinen guten Gedanken haben gegen Gott, denn ehe ihr recht aus der Kirche seid, müsst ihr schon wieder denken, jetzt müssen [wir] wieder Zehnt zahlen und sonst dem Dieb dem Staat, muss euer Gedanke sein, müssen wieder da zwei Gulden, drei Gulden da und sonst noch hie und da unrechtmäßiger zuzahlen, da hat man ja alleweil ein Groll im Ranzen, ist es nicht wahr?“

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Kaum Rückkehrsehnsucht

Unter diesen Umständen nach Baden zurückzukehren, kam für die Wenigsten in Frage. „Denn wenn man in Freiheit lebt, gut verdient, wünscht man sich gewiss nicht wieder zurück in das Land der Unterdrückung“, so Alois Becker aus Franklin County, Pennsylvania, im Jahre 1853 an seine Verwandten. Vor diesem speziellen Erfahrungshintergrund brachten sich die Deutsch-Amerikaner in das öffentliche Leben der Vereinigten Staaten ein. Hier erlebten sie die Demokratie, die ihnen in der alten Heimat vorenthalten worden war. Hier konnten sie sich ohne Gefahr in die Dinge einmischen, die sie angingen, was nach John F. Kennedy das Wesensmerkmal einer demokratischen Verfassung ist. Ihre große Mehrzahl stand auf der Seite derer, die erfolgreich gegen Versuche nativistischer Strömungen eintraten, die Rechte von Einwanderern zu beschränken und puritanische Wertvorstellungen als „Leitkultur“ vorzuschreiben.

Über 200 000 in Deutschland geborene Soldaten kämpften – an vorderster Front und teilweise in höchste militärische Dienstgrade vorrückend die ausgewanderten 48er-Revolutionäre – als Freiwillige im Amerikanischen Bürgerkrieg in der Nordstaatenarmee, als es nicht nur galt, die abtrünnigen Teile der Südstaaten in den Schoß der Union zurückzuzwingen, sondern auch das System der Sklaverei abzuschaffen, das mit dem Ideal der freien Arbeit auf freiem Grund, als wesentliche Voraussetzung für das Gedeihen demokratischer und republikanischer Tugenden, kollidierte.

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Bilanz: Wie die deutschen Einwanderer die USA mitgeprägt haben

Zwischen 1815 und 1950 wanderten über acht Millionen Deutsche, darunter mehr als zehn Prozent aus dem heutigen Baden-Württemberg nach Nordamerika aus. Nach den Iren waren die Deutsch-Amerikaner die zweitstärkste Bevölkerungsgruppe in diesem Schmelztiegel der Menschen und Nationalitäten.

Dementsprechend groß war ihr Einfluss im öffentlichen Leben, in Politik, Kultur und Ökonomie. Einige Beispiele: Karl Pfizer aus Ludwigsburg gründete 1849 in Brooklyn eine kleine Pillenfabrik, aus der das heute weltweit größte Pharmaunternehmen gleichen Namens wurde. Mitte der 1850er-Jahre begann der deutsch-jüdische Auswanderer Levi Strauss mit der Produktion seiner ersten Jeans, zur selben Zeit stellte ein gewisser Heinrich Steinweg in New York ein Piano vor, dem er seinen anglisierten Namen Steinway gab. Im Jahr 1856 eröffnete die Frau des 48er-Emigranten Carl Schurz den ersten Kindergarten in den USA, 1866 gründete Adolf Pfannenschmidt „Pfannenschmidtstadt“, das er später in „Hollywood“ umbenannte. Im Jahr 1877 schließlich wurde Carl Schurz US-amerikanischer Innenminister – eine weitere steile Karriere eines 48er-Revolutionärs, der seinen persönlichen wie politischen Traum von der Freiheit nur jenseits des Atlantiks hatte verwirklichen können.

Doch auch die vielen hunderttausend weniger Berühmtem oder Namenlosen trugen ihren Teil dazu bei, dass das deutsche Element in der amerikanischen Öffentlichkeit präsent war und blieb. Auch wenn tausende Auswanderer wegen Selbstüberschätzung oder an unglücklichen Umständen scheiterten, konnten Hunderttausende ihre Hoffnungen und ihre Träume leben. Neben ihrer Arbeit engagierten sie sich auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen aus ihrer alten Heimat im amerikanischen Vereinswesen, das ohne ihren Beitrag historisch nicht zu erklären ist. Sie schätzten die genossenschaftliche Verfassung ihrer ehemaligen Gemeinden und übertrugen dieses Modell auf die amerikanischen Städte und Gemeinden. Nicht zuletzt waren sie Vorreiter und wesentliche Gestalter einer freien polischen Meinungspresse. Und sie schlugen Brücken über den Atlantik, indem sie von ihren Erfahrungen und Erlebnissen in ihrer neuen Heimat berichteten. Damit prägten sie das Bild Amerikas in Deutschland und beeinflussten auch die wirtschaftliche und politische Entwicklung diesseits wie jenseits des Atlantiks.

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Die Beziehung zwischen Deutschland und Amerika

In Bezug auf die Auswanderung begann sich hierzulande die Erkenntnis durchzusetzen, dass man sich mit der Auswanderung zwar der Armen entledigen konnte, die Ursachen der Armut allerdings weiter bestehen blieben. Die Politik einer Förderung der Landwirtschaft – Bemühungen um eine bessere Feldeinteilung, genaue Vermessung aller Liegenschaften zur Sicherung der Rechtsverhältnisse, Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse durch Lehranstalten und Wanderlehrer –, ergänzt durch Maßnahmen zur Gewerbeförderung wie Ausbau der verkehrlichen Infrastruktur, Errichtung von Gewerbeschulen, Förderung von Industrieausstellungen, Anfänge staatlicher Sozialpolitik, setzten nicht zufällig Mitte der 1850er-Jahre in den Staaten des deutschen Bundes ein.

Vor dem Ersten Weltkrieg lag der Anteil der deutschsprachigen Presseorgane in den USA bei nahezu einem Drittel der amerikanischen Gesamtauflage. Auch wenn die dritte Auswanderergeneration ihre Bindungen an die Heimat ihrer Großeltern zu lockern begann, genossen die Deutsch-Amerikaner ein weiterhin hohes Ansehen in der amerikanischen Öffentlichkeit.

Dieses Ansehen ging mit Beginn des Ersten Weltkrieges rapide zurück und verschwand mit der Kriegserklärung der USA gegen Deutschland im Jahr 1917. Zugleich verschwanden damit die deutsche Sprache und die deutsche Kultur als selbstverständlicher Teil des amerikanischen Lebens; die Amerikaner hörten für lange Zeit auf, ihre deutschen Wurzeln zu betonen. Geradezu als Menetekel erscheint die Schiffskatastrophe der „General Slocum“ auf dem New Yorker East River im Juni 1904, als über 1000 Bewohner von „Little Germany“ auf dem brennenden Schiff starben. Das Unglück war der Anfang vom Ende der Gemeinschaft von Kleindeutschland in New York, die sich in der Folge gänzlich auflöste.

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Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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