Einwanderungsland Baden-Württemberg

Am 5. August 1970 kommt der 500.000ste „Gastarbeiter“ ins Land

Großer Bahnhof für den 31-jährigen Zvonimir Kanjir aus Kroatien. Es ist der 5. August 1970. Das Begrüßungskomitee wartet schon auf den 500 000sten ausländischen Arbeitnehmer, der nach Baden-Württemberg geholt wird. Der DGB-Landesvorsitzende, der Repräsentant der Firma Daimler-Benz, die den Jugoslawen als Arbeitskraft braucht, sowie der Präsident des Landesarbeitsamtes und sein Pressereferent empfangen den „Jubilar“ in Stuttgart. Der frühere Pressereferent Hans-Jörg Eckardt denkt immer wieder an jenen Sommertag im Jahre 1970: „Alles, was schreiben, filmen und Töne aufnehmen konnte, war da. Der Sonderzug lief ein. Türe auf – und dann hat man ihn entsprechend präsentiert. Die Kameras liefen und dann wurde ein Radio überreicht.“

Es war die Zeit, als die Wirtschaft in Deutschland – und zumal in der deutschen „Wirtschaftslokomotive“ Baden-Württemberg – brummte und jährlich zehntausende ausländische Arbeitskräfte angefordert wurden. Auch machte man sich sowohl auf Seiten der Arbeitsmigranten als auch auf der Seite der Einheimischen kaum Gedanken darüber, wie lange die „Gäste“ wohl bleiben würden, wie man sie bei der Integration unterstützen könnte und wie man verfahren solle, wenn das Wirtschaftswachstum einbräche. Im Rückblick gesehen, war Baden-Württemberg schon damals ein Einwanderungsland, wenngleich man lange die Augen vor dieser gesellschaftlichen Realität verschlossen hat.

Autor: Karl-Heinz Meier-Braun

Der Text von Karl-Heinz Meier-Braun erschien unter dem Titel „Einwanderungsland Baden-Württemberg. Am 5. August 1970 kommt der 500 000ste „Gastarbeiter“ ins Land“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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„Ein Stück Lagerarbeiter“

Hans-Jörg Eckardt vom Landesarbeitsamt denkt heute so zurück an die Situation im Stuttgarter Hauptbahnhof im Sommer 1970: „Es war für Baden-Württemberg aus Sicht der Wirtschaft lebensnotwendig, dass eben ,Gastarbeiter‘ gekommen sind. Ich war selbst in den Jahren davor einmal bei unserer Verbindungsstelle in Griechenland, habe selbst ,Gastarbeiter‘ für Baden-Württemberg mit angeworben. Damals kamen Fernschreiben unserer deutschen Firmen, in denen es dann ganz einfach hieß: ‚Bitte sofort fünf Stück Hilfsarbeiter.‘ Im ‚Vermittlungsauftrag‘ stand dann auch einfach manchmal: ‚Ein Stück Transportarbeiter oder ein Stück Lagerarbeiter.‘ Eine andere Firma schrieb: ‚Wir bitten, nachstehende Personen […] umgehend in Marsch zu setzen.‘ “ Hans-Jörg Eckardt hat seine Erinnerungen als junger Mann in einem kleinen schwarzen Büchlein notiert: „Bei einer Firma fand sich im Vertrag sogar noch der Zusatz: ‚Nach Arbeitsschluss kann über die Freizeit nach eigenem Ermessen verfügt werden.‘ “

Sonderzüge mit Italienern seien in Stuttgart manchmal alle 20 Minuten angekommen, erinnert sich Eckardt. Bis zu 1500 italienische Arbeitskräfte auf abgesperrten Bahnsteigen hat er mit dem Chefdolmetscher der Deutschen Bahn dann per Megafon weiterverteilt. Als Zugbegleiter holte er die „Gastarbeiter“ auch aus München ab und verteilte sie auf der Strecke an den Bahnhöfen, fast „im Zehnminutentakt gruppenweise“ in Geislingen, Göppingen oder Plochingen, wo sie von den Arbeitgebern in Empfang genommen wurden.

„Ich werde die weinenden Männer nie vergessen“

So manchem Arbeitsmigranten konnte Eckardt in Griechenland und in Deutschland helfen. Auch viele Frauen wanderten damals aus Griechenland nach Deutschland aus. „Vor allem in der Textil- und Elektroindustrie waren Frauenhände heiß begehrt“, stellt Eckardt fest. Seine Erfahrungen in Griechenland haben sich besonders in sein Gedächtnis eingeprägt: „Häufig begleiteten wir die jungen Frauen in den Sonderzügen, die vom Bahnhof in Thessaloniki abfuhren und deren erster Halt München war. Ich werde die Männer nie vergessen, denen die Tränen kamen, als sie ihre Töchter, manche von ihnen auch ihre Frauen verabschiedeten und in den Armen Babys hielten.“ Heute arbeitet Hans-Jörg Eckardt ehrenamtlich als Pressesprecher beim Landesseniorenrat, wo ihn das Thema weiter beschäftigt, etwa wenn er mit ehemaligen „Gastarbeitern“ zu tun hat, die längst in Rente sind.

Die erste Ausländergeneration, zu denen der 500 000ste „Gastarbeiter“ gehörte, kam voller Hoffnung nach Deutschland. Zvonimir Kanjir fuhr zweimal im Monat mit dem Bus nach Jugoslawien. Später reiste er dann mit dem eigenen Auto. Es sei schwer gewesen, sagt der einst Gefeierte in einem Radiointerview im Jahr 1990, sich an die Arbeitsdisziplin zu gewöhnen, aber der Verdienst habe ja gestimmt. Zehn Jahre lang hat Kanjir an der Schleifmaschine „beim Daimler“ gearbeitet. Als dann Automatisierungen kamen, hätte der Meister ihn aber gefragt, ob er nicht nach Jugoslawien zurückkehren möchte. Von Abteilung zu Abteilung sei er dann gewandert. Die Arbeitsbedingungen seien für ihn immer schlechter geworden. Seine Frau und die Kinder, die in der Heimat geblieben waren, sollten nachkommen. Doch dann erkrankten die Schwiegereltern und die Frau musste sie pflegen. Die ganzen Jahre hat der „500 000ste“ so, mehr oder weniger isoliert, ohne großen Kontakt zu den Deutschen und ohne jemals richtig Deutsch zu lernen in der Werkswohnung gelebt und für die Familie daheim gearbeitet. Seine Rückkehr hat er, wie so viele andere ausländische Arbeitnehmer auch, immer wieder hinausgeschoben.

Rückblick des 500.000sten Gastarbeiters

Es wäre doch besser gewesen, wenn er nach einer gewissen Zeit heimgekehrt wäre, sagt der Kroate Kanjir rückblickend in dem Interview, das die damalige SDR-Ausländerredaktion, heute SWR International, die Fachredaktion für Migrationsthemen des Südwestrundfunks, 1990 mit ihm machte, nachdem man ihn nach mühsamen Recherchen in seiner Heimat gefunden hatte. Er würde sich aber wieder für Deutschland entscheiden, allerdings die Familie nachkommen lassen und eine Wohnung mieten, sagte er. Einiges sei schief gelaufen im seinem Leben. Nachdem er sich das Bein gebrochen hatte, wurde ihm eine Schiene eingesetzt. Wegen Verständigungsschwierigkeiten hatte er es versäumt, die Schiene rechtzeitig herausnehmen zu lassen. Eine Blutvergiftung war die Folge. Hinzu kamen andere Krankheiten wie ein Magenleiden und einige Krankenhausaufenthalte, so dass er nicht mehr arbeiten konnte. Zvonimir Kanjir wünschte sich nur noch eine bescheidene Rente wegen Berufsunfähigkeit. Zusammen mit seiner Frau kehrte er auf den väterlichen Hof in seinem kleinen Dorf in Kroatien zurück.

35 Jahre nach dem feierlichen Empfang am Stuttgarter Hauptbahnhof gelang es SWR International im Sommer 2005 erneut, den „500 000sten“ in der Nähe von Zagreb aufzuspüren. Dem 67-Jährigen wurde an selber Stelle nochmals ein Empfang bereitet. Presse, Funk und Fernsehen und der frühere Pressesprecher beim Landesarbeitsamt, Hans-Jörg Eckardt, begrüßten den Kroaten. Alles in allem kam Kanjir nun zu einem versöhnlichen Urteil über seine Zeit in Baden-Württemberg und fuhr mit diesen positiven Eindrücken in seine Heimat zurück. In seinem kleinen Häuschen, Matije Gubca 26 in der Ortschaft Gornje Ladanje bei Vinica in Kroatien, ist Zvonimir Kanjir im Jahre 2008 an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben. Er wurde 70 Jahre alt. Seine Frau Maria berichtet, wie oft und gerne ihr Mann von seinem zweiten Empfang im Stuttgarter Hauptbahnhof im Jahr 2005 erzählt hatte.

„Zwischen Kommen und Gehen …“

Zvonimir Kanjir hat ein nicht untypisches Schicksal für die ehemaligen „Gastarbeiter“. Sein altes Kofferradio ließ er in Stuttgart und bekam dafür 2005 ein topmodernes überreicht. Das gute alte Stück der Firma Nordmende, Typ „Globetrotter“, stellte er für die SWR-Wanderausstellung „Zwischen Kommen und Gehen … und doch Bleiben – ‚Gastarbeiter‘ in Deutschland 1955–1973“ zur Verfügung. Diese, in ihrer Art einzigartige Ausstellung erinnert an die Geschichte der Arbeitsmigranten der ersten Stunde. Als „Ausstellung zum Selbermachen“ enthält sie sehr persönliche Gegenstände, die die alten „Gastarbeiter“ als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt haben. Ergänzt wird die Präsentation durch Schautafeln mit Informationen über die ersten Jahre der Ausländerbeschäftigung in Deutschland.

Im 18-jährigen Zeitraum, den die Ausstellung dokumentiert, kamen 14 Millionen Arbeitsmigranten nach Deutschland. Elf Millionen kehrten wieder zurück. Deutschland ist damals eigentlich schon zum Einwanderungsland geworden. Die Ausstellung macht deutlich, dass die Migration historisch gewachsen und nicht wie ein „Naturereignis“ über Deutschland gekommen ist.

Spaghetti vom Arbeitsamt

Bei den Recherchen für die Ausstellung sind höchst interessante Dokumente aufgetaucht. Dazu gehört beispielsweise das Original der Pressemitteilung des Landesarbeitsamtes Baden-Württemberg aus dem Jahre 1960 mit dem Titel „Wie kocht man Spaghetti für Italiener?“. Heute kaum zu glauben, aber wahr: Damals waren Spaghetti in Deutschland noch unbekannt. Aber auch Mozzarella, Basilikum, Cappuccino, Auberginen oder Zucchini, ja selbst Melonen galt es noch zu entdecken. Kulinarisch, kulturell und wirtschaftlich haben die Arbeitsmigranten Deutschland verändert, wie in der Ausstellung deutlich wird.

Erstaunt bleiben die Ausstellungsbesucher auch immer wieder vor einer Vitrine stehen, in der ein Brautkleid zu bewundern ist. Elisa Beatrice Soi aus Kornwestheim, eine italienische Arbeitsmigrantin der ersten Stunde, hat es zur Verfügung gestellt. „Damals war das Brautkleid hochmodern und in der außergewöhnlichen Farbe hellblau“, erinnert sie sich heute. Sie denkt oft an die „gute alte Gastarbeiterzeit“ zurück, die aber gar nicht so rosig war. Viele „Gastarbeiter“ lebten die ersten Jahre in Baracken. „Im Winter war es oft so kalt, dass wir alle abwechselnd unsere Füße an den kleinen Ofen gehalten haben, damit uns überhaupt ein bisschen warm wurde“, sagt Frau Soi zurückblickend.

Ein Zugschild aus den 1960er-Jahren vom Hellas-Express, der uralte Wimpel von einem italienischen Fußballturnier, eine alte Chianti-Bastflasche, zahlreiche Fotos, offizielle Dokumente wie erste Lohnstreifen oder ein Beschäftigungsausweis, ein Gepäckwagen mit original „Gastarbeiterkoffern“ – all das ist in der Ausstellung zusammengetragen worden. Immer wieder stehen auch Schulklassen und Enkel der „Gastarbeiter“ überrascht vor den Exponaten, denn die Anfangsgeschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland war weitgehend unerforscht und drohte in Vergessenheit zu geraten.

Italiener singen auf der Allee

In der Zwischenzeit erinnern sich viele Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg ihrer „Gastarbeiter-Jubilare“. Freiburg dachte 2010 an seinen 10 000sten „Gastarbeiter“ Roberto Rossi, der bereits 1965 angeworben worden war. Blumen und einen Bildband bekam der damals gerade einmal 16-jährige Italiener am 3. März 1971 vom italienischen Vizekonsul und dem Leiter des Amts für öffentliche Ordnung geschenkt. Er arbeitete vor allem in Freiburger Eisdielen und kehrte dann später wieder in seinen Heimatort, Bibano di Godega Sant Urbano in der Provinz Treviso, Region Venetien, zurück. Dort lebt er heute mit seiner Frau und arbeitet als selbstständiger Handwerker. Roberto Rossi erinnert sich noch gut an den Empfang im Rathaus und an ein kleines kulturelles Missverständnis: „Ich hab gedacht, das sind ja die Blumen für die Toten. Diese Blumen werden Toten gegeben. So war ich etwas schockiert, weil bei uns sind das die Blumen für die Toten. Das hat sich bei mir eingeprägt, diese großen Blumen, Chrysanthemen.“

Auf seinen 10 000sten „Gastarbeiter“ blickte man ebenfalls im Jahre 2010 im württembergischen Unterland zurück, als sich die Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland zum 50. Mal jährten. Das Neckar-Echo vom 29. Mai 1965 schrieb dazu: „Gestern um 16.01 Uhr traf aus Richtung Köln kommend vor dem Heilbronner Arbeitsamt ein Omnibus mit spanischen ‚Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern‘ ein. Direktor Mistele und seine Mitarbeiter erwarteten das Fahrzeug, das schließlich mit 61 Minuten Verspätung eintraf, ungeduldig: Es sollte den 10 000sten Ausländer bringen, der im Bezirk des Arbeitsamts schafft. Es war eine junge Näherin, Maria Rosario Torres-Baquero aus Madrigal de la Vera an der spanischen Grenze mit Portugal, ganze 19 Jahre alt […]. Direktor Mistele begrüßte sie kurz und händigte ihr kleine Willkommensgeschenke aus.“ Ergänzend dazu war in der Heilbronner Stimme am selben Tag zu lesen: „Vorsorglich hatten spanischkundige Mitarbeiter des Arbeitsamtes den Text für zwei Schilder zusammengestellt. Auf dem einen Schild konnte man ‚10 000 Trabajadores extranjeros‘ (10 000. ausländische ‚Gastarbeiter‘) lesen, während es auf dem anderen Schild hieß: ,I vien venido a Heilbronn‘ (‚Grüß Gott in Heilbronn‘).“

Die Italiener waren schon früher ins Unterland gekommen. 1959 berichtete die Heilbronner Stimme von den Anfängen der Ausländerbeschäftigung. Damals sprach man noch von „Fremdarbeitern“: „Italiener schaufeln und singen auf der Allee. Etwa 900 Fremdarbeiter sind zurzeit im Stadt- und Landkreis beschäftigt. Die Arbeitgeber sind zufrieden. Seit einiger Zeit dringen hin und wieder in der Stadt italienische Gesänge an unser Ohr. Sie stammen von italienischen Fremdarbeitern, die an den verschiedenen Großbaustellen beschäftigt sind und die ihre Arbeit ab und zu durch Gesang begleiten. Sogar der Regen stört sie dabei nicht […]. Die hiesigen Arbeitgeber konnten sich mit den Fremdarbeitern bis jetzt schnell einigen, und viele Betriebe wollen jetzt im Winterhalbjahr Unterkünfte bauen, um später noch mehr Fremdarbeiter einstellen zu können.“

Bahnhof als Treffpunkt

Die Bahnhöfe spielten eine große Rolle im Leben der „Gastarbeiter- Pioniere“. Es war der Beginn eines neuen Lebens in Deutschland. Die neue und alte Heimat begann am Gleis, dem Tor nach Deutschland. Und am Ende einer bis zu 50 Stunden langen Reise in Sonderzügen nach Baden-Württemberg stand oft die Ankunft am Bahnhof in Singen/Hohen-twiel: „Attenzione, attenzione! Qui Singen, Hohentwiel. La prima stazione Germanica dove avrà luogo lo smistamento. Siete precati di scendere il bagaglio.“ („Achtung, Achtung! Der erste Bahnhof in Deutschland. Hier werden die Ankommenden verteilt. Bitte laden Sie das Gepäck aus.“) So tönte es 1960 aus dem Lautsprecher in Singen, damals ein Knotenpunkt für die Verteilung der ausländischen Arbeitskräfte nach ganz Südwestdeutschland. Singen wurde sogar „Neapel-Schleuse“ genannt.

Die Bahnhofsmission betreute die italienischen Arbeitskräfte. Der Bahnhof war für die Arbeiter aus den Mittelmeerländern der zentrale Treffpunkt am Wochenende, weil er die Verbindung zur Heimat symbolisierte und einen Ort darstellte, an dem das Heimweh mit anderen geteilt werden konnte. Hanne Braun, beim Diakonischen Werk Württemberg vor allem für die Griechen zuständig, erinnert sich: „Die Griechen kamen alle auf den Bahnhof, die Männer, weil sie sagen: ‚Jetzt kommt ein wenig Luft von Griechenland‘. Am Samstag, Sonntag war der Bahnhof voll. Dann standen die im Kreis und jeder wartete. Um fünf kommt der Hellas-Express, und dann hat man gedacht: ‚Jetzt riechts a bissle nach Oregano‘.“

Ein Denkmal für die „Gastarbeiter“

Landauf, landab wurde in den letzten Jahren mit Ausstellungen an die Einwanderung der ehemaligen „Gastarbeiter“ erinnert, unter anderem in Ulm, Karlsruhe, Ravensburg, Ludwigsburg, Waiblingen, Mannheim, Reutlingen, Göppingen, Biberach, Friedrichshafen, Süßen oder Villingen-Schwenningen. Mit regionalen Bezügen knüpften die Städte und Gemeinden dabei oft an die Jubiläen der Anwerbeabkommen an. Die Themen Zuwanderung und Integration sind also offensichtlich inzwischen in der Erinnerungskultur in Baden-Württemberg angekommen. Dadurch wird ein wichtiger Beitrag zum Abbau von kulturellen Missverständnissen und Vorurteilen geleistet. Es wäre aber zu wünschen, dass die Ein- und Auswanderungsgeschichte noch viel stärker in den Heimatbüchern, auf regionaler und lokaler Ebene sowie in den Museen verankert wird. Die Zeit ist auch reif für ein Denkmal, das an die Einwanderung der „Gastarbeiter“ nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, denen das Land so viel zu verdanken hat.

Dabei könnte deutlich gemacht werden, dass das „Wirtschaftswunder“ im Nachkriegsdeutschland und der Aufbau der Sozialsysteme nicht ohne die „Gastarbeiter“ erreicht worden wäre. Viele Deutsche stiegen aufgrund der massenweisen Beschäftigung von „billigen“ ausländischen Arbeitskräften in bessere berufliche Positionen auf. So schafften zwischen 1960 und 1970 rund 2,3 Millionen Deutsche mit diesem „Fahrstuhleffekt“ den Aufstieg von Arbeiter- in Angestelltenpositionen. Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahre 1976 ermöglichten die ausländischen Arbeitnehmer unter Wahrung eines starken Wirtschaftswachstums eine starke Verringerung der Arbeitszeit der Deutschen.

Die ausländischen Arbeiternehmer zahlten Steuern, ohne immer auch in entsprechendem Umfang die öffentlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Das gilt beispielsweise für die Beiträge zur Rentenversicherung. Bereits 1971 hätten die Beiträge zur staatlichen Rentenversicherung ansonsten erhöht werden müssen. Auch das „Rentenloch“, über das bereits in den 1970er-Jahren lamentiert wurde, wäre ohne diesen Beitrag nicht zu stopfen gewesen. Den von den ausländischen Arbeitnehmern in die Rentenversicherung eingezahlten Beiträgen stand nur rund ein Zehntel an Leistungen gegenüber. Insofern wurde die Rentenversicherung lange Zeit von den ausländischen Arbeitnehmern geradezu subventioniert.

"Der Ausländer" und die Stele

Ein Denkmal wäre also mehr als gerechtfertigt. Erste Schritte in diese Richtung gibt es bereits: Seit der Umgestaltung des Ortskerns in Stuttgart-Obertürkheim ist die Bronzestatue "Der Ausländer" an der Bushaltestelle gegenüber dem Bahnhof ein Blickfang. Die Skulptur des Remstaler Künstlers Guido Messer war zunächst für die Fußgängerzone der Gemeinde Reichenbach/Fils bestimmt gewesen. Aber Querelen in der Gemeinde blockierten sieben Jahre lang eine Realisierung des Entwurfs, so der Künstler im Rückblick. Ersatzweise kam das Projekt dann 1990 nach Stuttgart-Obertürkheim. Seit 1993 ist ein Duplikat der Skulptur sogar im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zu sehen, was den Bewusstseinswandel in Sachen Einwanderung deutlich macht.

Im Stuttgarter Nordbahnhofviertel wurde 2010 eine Stele von Heinz Blaschke aufgestellt, auf der die Herkunftsländer der ausländischen Einwohner im Viertel aufgelistet sind. Auf dem Sockel der Stele sind drei Werte aufgezählt: „Demokratie, Grundgesetz, Deutsche Sprache“. Darauf stapeln sich 15 Platten mit ausgewählten Ländernamen, den Herkunftsländern der Migranten im Nordbahnhofviertel. „Das Kunstwerk soll ein sichtbares Zeichen dafür sein, wie wir unseren Stadtteil längst sehen“, sagte Bezirksvorsteherin Andrea Krueger bei der Einweihung, „als ein Viertel, das aus vielen verschiedenen Teilen zu einem Ganzen wird.“

Baden-Württemberg wurde zum Einwanderungsland

Die Ausländerbeschäftigung nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Baden-Württemberg begonnen, noch bevor das erste Anwerbeabkommen mit Italien am 20. Dezember 1955 unterzeichnet wurde. Die ersten Versuche, oberitalienische Landarbeiter auf die Bauernhöfe zu holen, fanden bereits im Gründungsjahr des Landes Baden-Württemberg 1952 in Südbaden statt. Wegen der Landflucht herrschte auf den Höfen Arbeitskräftemangel. Karl Lutterbeck vom Bauernverband Württemberg-Baden machte sich deshalb auf die Suche nach italienischen Arbeitskräften.

Er schildert die Auslese so: „Da saßen wir an einem Tisch, so wie bei einer Musterungskommission, und die defilierten dann an uns vorbei. Und dann haben wir sie uns nach der Größe, nach der Stärke, nach Körperbau angeguckt. Manchmal haben wir uns auch die Hände zeigen lassen, ob sie auch möglichst große Hände und feste Schwielen an den Fingern haben. Daran meinten wir zu sehen, dass er das Arbeiten gewöhnt ist. Ab und zu guckte man einem dieser Italiener in den Mund, um festzustellen, ob auch seine Zähne einigermaßen in Ordnung sind!“ So wurden die Landarbeiter ausgewählt und kamen 1955 nach Stuttgart, wo „ihre“ Bauern sie am Bahnhof in Empfang nahmen.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Jahrzehntelang lebten die einstigen „Gastarbeiter“ in einer Rückkehrillusion und waren davon überzeugt, dass sie eines Tages wieder heimkehren würden. Aber die Illusion herrschte auf beiden Seiten vor, denn Deutschland lebte in der Lebenslüge, kein Einwanderungsland zu sein. Erst in den letzten Jahren hat die Bundesrepublik ihre Rolle als Einwanderungsland akzeptiert und die „Gastarbeiterzeit“ ist ein Teil der Einwanderungskultur geworden. Seit der Gründung des Landes Baden-Württemberg sind fast 17 Millionen Menschen – Deutsche und Nichtdeutsche – hierher gezogen. Über 13 Millionen Menschen haben das Land im gleichen Zeitraum wieder verlassen. Es sind also mehr Menschen hin- und hergezogen als heute insgesamt in Baden-Württemberg leben.

Migration - ein Thema mit Zukunft

Heute leben in Baden-Württemberg rund 2,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Mehr als ein Viertel der Menschen im Land gehört damit zu den Migranten. Dazu zählen neben den Zugewanderten und den in Deutschland geborenen Ausländern unter anderem auch Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, also Spätaussiedler, Eingebürgerte sowie deren Kinder. Unter den Flächenländern hat Baden- Württemberg traditionell den größten Migrantenanteil, der über dem Bundesdurchschnitt von 19 Prozent liegt. Die größten Migrantengruppen stammen aus der Türkei, Italien, dem ehemaligen Jugoslawien, Kroatien und Griechenland.

Auch in der Zukunft ist Baden-Württemberg weiterhin auf Zuwanderung angewiesen, wenn es seinen wirtschaftlichen Wohlstand bewahren will. So ergab ein Gutachten der Landesregierung im Jahr 2010, dass bis 2020 rund 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze von Ingenieuren, anderen Hochschulabsolventen und Facharbeitern besetzt werden müssen und dass dabei Migration eine herausragende Rolle spielen wird. In diesem Sinne war und ist die Einwanderung ein Glücksfall für Südwestdeutschland – trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die aus der Zuwanderung entstanden sind. Eine vorausschauende Zuwanderungs- und Integrationspolitik wird erst seit einigen Jahren deutschlandweit entwickelt. Baden-Württemberg könnte dabei aufgrund seiner historischen Erfahrungen mit der Ausländerbeschäftigung eine Vorreiterrolle übernehmen, auch wenn Zuwanderung natürlich kein Allheilmittel gegen eine schrumpfende und immer älter werdende Bevölkerung ist.

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