20. Dezember 1992 – Die Stuttgarter Lichterkette gegen fremdenfeindliche Gewalt

Sophia Rilling

 „Und täglich werden’s immer mehr, die auf die Straße gehen. Denn was in unserem Land passiert, das muss doch jeder sehen. Wir müssen aufwachen, aufstehen, hinstehen.“ Der Musiker David Hanselmann zeigte 1993 singend nicht nur die Situation im jüngst wiedervereinigten Deutschland auf, sondern ermutigte in seinem LiedAufwachen – Aufstehen – Hinstehen zum Tätigwerden. Er beschrieb damit ein Bedürfnis, das anscheinend nicht nur er, sondern viele Menschen angesichts der Vielzahl an rassistisch motivierten Gewalttaten, die zum Teil pogromartige Ausmaße wie in Rostock-Lichtenhagen annahmen, verspürten: etwas unternehmen zu müssen gegen rechtsextreme Gewalt und Fremdenhass, aufstehen zu müssen gegen Hass, hinstehen zu wollen für Toleranz und Nächstenliebe und damit Tätern, Opfern und Politik ein klares Zeichen zu geben. Die Bereitschaft der Menschen war groß. Bundesweit entstanden friedliche Demonstrationen, genauer: Lichterketten. Dabei fanden sich Menschen aller Bevölkerungsschichten, jeden Alters und Geschlechts zusammen, darunter auch viele, die zuvor noch nie bei einer Demonstration gewesen waren. Die Teilnahmebereitschaft der Bevölkerung übertraf vielerorts alle Erwartungen.
Auch die Stuttgarterin Ingeborg Höch verspürte zur damaligen Zeit das Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Sie initiierte eine Lichterkette, die am 20. Dezember 1992 große Teile der Landeshauptstadt in ein Lichtermeer aus rund 120.000 Kerzen verwandelte.

Rechtsextremismus und Fremdenhass nach der Wiedervereinigung in Deutschland

Doch welche Ereignisse genau erschütterten Teile der Bevölkerung so sehr, dass sich Schätzungen von Thomas Balistier zufolge allein bis Ende Februar 1993 rund drei Millionen Menschen in Deutschland zu Lichterketten formierten? Was genau musste geschehen, um einen solchen Tatendrang in der Bevölkerung auszulösen?

Nach der Wiedervereinigung kam es immer wieder zu Feindseligkeiten und gewaltsamen Übergriffen auf Asylbewerber und zugewanderte Mitbürger, aber auch auf Obdachlose, Prostituierte, Homosexuelle und Menschen mit Behinderungen. Dem Verfassungsschutzbericht von 1992 ist eine Gesamtzahl von 2.584 registrierten „Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation“ in der Bundesrepublik zu entnehmen (Maegerle/Hauns 1993: 15 ff.). Im Einzelnen seien es zu 15 Tötungsdelikten, 14 Sprengstoffanschlägen und 708 Brandanschlägen, zudem zu 725 Körperverletzungen sowie 1.122 Sachbeschädigungen gekommen. Darüber hinaus ist die Rede von weiteren 4.537 als rechtsextremistisch eingeschätzten Gesetzesverletzungen wie Gewaltandrohungen. Insgesamt sei im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg der Gewalttaten um fast 74 Prozent verzeichnet worden. Der Verfassungsschutzbericht gibt außerdem Aufschluss über das Alter der (mutmaßlichen) Täter: Fast 70 Prozent seien 20 Jahre alt oder jünger, der Großteil von ihnen männlich. Einige gehörten der rechten Skinhead-Bewegung an.

Soziale Unzufriedenheit, Neid und Frustration über die Leistungen, die Geflüchtete in Deutschland erhielten, Arbeitslosigkeit sowie die immer wieder zitierte sogenannte „Angst vor Überfremdung“ können als Auslöser für das Aufflammen des Fremdenhasses angenommen werden. All dies führte ab 1991 immer wieder zu Angriffen auf Asylbewerber- und Flüchtlingswohnheime. 1992 verschärften sich die Übergriffe. Der NDR spricht in einer Dokumentation über die Gewalteskalation in Rostock-Lichtenhagen sogar vom „Sommer der Gewalt“. Allein 681 der im Verfassungsschutzbericht genannten Spreng- und Brandanschläge seien auf Unterkünfte von Asylbewerbern verübt worden. Insbesondere die fremdenfeindlichen Übergriffe waren Anlass für das Entstehen der Lichterketten. Einige davon werden hier exemplarisch skizziert.

Chronik der Gewalt kurz nach der Wende

Im August 1991 zerstörten 30 Vermummte eine Asylbewerberunterkunft in Ueckermünde. Sie zerschlugen Fenster, verschafften sich so Zugang und warfen das Hab und Gut der Menschen hinaus. Sie stahlen Geld, zerstörten die Zimmer und steckten ein Auto in Brand. Obwohl sich schwangere Frauen und Kinder unter den Asylbewerbern befanden, schreckten die Gewalttäter nicht davor zurück, die Bewohner mit Löschschaum zu besprühen und Reizgas einzusetzen. Die Bereitschaftspolizei bewachte daraufhin zum Schutz der Bewohner Unterkünfte in Mecklenburg-Vorpommern. Allerdings wurde der Polizeischutz nach nur drei Wochen eingestellt, mit der Begründung, größere Anschläge seien in Zukunft nicht mehr zu erwarten. Ein trügerischer Fehlschluss, wie nicht nur die Ermordung eines 18-jährigen Rumänen in Saal, sondern spätestens die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen ein knappes Jahr später zeigen sollten.

Im September 1991 folgte ein tagelanger Angriff auf ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter und Asylsuchender im sächsischen Hoyerswerda. Dabei wurden nicht nur Steine geworfen, sondern auch Molotowcocktails und Stahlkugeln eingesetzt. Die randalierenden Skinheads wurden in ihrem Tun von Anwohnern bejubelt. Ein weiteres Wohnheim im nordrhein-westfälischen Hünxe ging durch das Treiben von Skinheads in Flammen auf. Zwei libanesische Mädchen wurden dabei durch das Feuer schwer verletzt.

Einen traurigen Höhepunkt stellten schließlich die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im September 1992 dar. Sie werden in den Berichterstattungen nicht selten mit Pogromen und kriegsähnlichen Zuständen verglichen. Was mit ausländerfeindlichen Parolen bei der Wiedervereinigung auf dem Rostocker Boulevard begann, mündete in einer mehrtägigen Straßenschlacht. Die zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende war der Vielzahl der Menschen im Sommer 1992 nicht mehr gewachsen. Bis sie an der Reihe waren, schliefen viele Asylsuchende vor der Aufnahmestelle. Dies führte zu Diebstählen, Exkrementen im Gebüsch und Müll, aber auch zu kaum mehr besuchten Geschäften, da Anwohner die Gegend mieden. Am 22. September machten schließlich hunderte Menschen ihrem Unmut Luft, griffen zu Steinen und belagerten – angefeuert von Anwohnern – die Aufnahmestelle. Bereits in der ersten Nacht kam es zu exzessiven Auseinandersetzungen zwischen den Krawallmachern und der Polizei. Streifenwagen brannten, Brandflaschen flogen, die Polizei setzte Wasserwerfer und Schlagstöcke ein. Statt zum Erliegen zu kommen, nahmen die Ausschreitungen in den nächsten Tagen straßenkampfähnliche Züge an. Rund 200 Asylsuchende wurden daher evakuiert. Nicht nur das geräumte Gebäude, sondern auch die benachbarte Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter ging daraufhin in Flammen auf. Die Bewohner konnten sich glücklicherweise über ein Dach in Sicherheit bringen. Bis heute bemängeln viele die Untätigkeit der Polizei während der Brandstiftungen.

Schwere Ausschreitungen und Brandanschläge folgten in den kommenden Monaten in der Kleinstadt Mölln in Schleswig-Holstein und im nordrhein-westfälischen Solingen. Auch in Baden-Württemberg kam es Anfang der 1990er-Jahre zu rassistisch motivierten Übergriffen, so zum Beispiel in Mannheim-Schönau, Kemnat oder Friedrichshafen. Allein in der Landeshauptstadt Stuttgart sollen einem Artikel der Stuttgarter Zeitung aus dem Jahre 1992 zufolge (genaues Datum nicht mehr feststellbar) ab September 1991 binnen eines Jahres 99 Straftaten gegen ausländische Bürger und Asylbewerber verübt worden sein.

Lichterkette als Demonstrationsform

Die Bilder von fremdenfeindlichen Ausschreitungen wie in Rostock-Lichtenhagen schockierten weite Teile der Bevölkerung. Einige Menschen wollten nicht länger tatenlos zusehen und auf Veränderungen oder Beschlüsse der Politik warten. Sie schritten selbst zur Tat und organisierten in Eigeninitiative Lichterketten, um dem Fremdenhass entgegenzuwirken. Schließlich könne man, so ein unbekannter Teilnehmer der Münchener Lichterkette vom 6. Dezember 1992, die Straße nicht einfach den Rechtsradikalen überlassen. Die Lichterketten sollten aufzeigen, dass die bislang tatenlose und schweigende Mehrheit der Bevölkerung nicht hinter den Ausschreitungen stehe, sondern diese vehement ablehne. Für viele waren die Lichterketten ein wichtiges Zeichen, schließlich konnten die rassistisch motivierten Täter durch Anfeuerungsrufe und Zusprüche einiger Anwohner durchaus den Eindruck gewonnen haben, sie würden mit den Ausschreitungen im Sinne des deutschen Volkes handeln. Dass dem jedoch nicht so sei, sollten die Lichterketten nicht nur verdeutlichen und im besten Fall nicht nur neue Gewalttaten verhindern, sondern auch den verängstigten Asylbewerbern und ausländischen Mitbürgern Solidarität, Nächstenliebe und Hoffnung demonstrieren.

Bei den Lichterketten handelte es sich um eine Demonstrationsform, bei der die Teilnehmenden mit Lichtquellen jeglicher Art – Kerzen, Taschenlampen, Fackeln, Lampions usw. – zu einem bestimmten Zweck zusammenkommen. Aneinandergereiht werden die einzelnen Lichter zu einem langen Lichterband und von Weitem scheint es, als erhelle ein riesiges Lichtermeer die Dunkelheit der Stadt. Die Lichterketten erinnern in ihrer Erscheinungsform an Menschenketten, die im Zuge der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren häufig als Protestform genutzt wurden. Anders als Menschenketten benötigen Lichterketten jedoch keinen mit Bedeutung aufgeladenen Raum wie beispielsweise den Ort eines Geschehens, um Tragkraft zu erlangen. Die Lichterketten in den frühen 1990er-Jahren mussten nicht direkt am Asylbewerberheim, am Ort der Anschläge, stattfinden, um auf das Unrecht hinzuweisen. Sie konnten überall veranstaltet werden und erzielten dennoch dieselbe Wirkkraft. Allerdings ist zu erwähnen, dass Lichterketten, die an den Orten der Ausschreitungen und Verbrechen veranstaltet worden wären, unter Umständen ihre deeskalierende und friedliche Intention verfehlt hätten. Denn die Veranstalter wären Gefahr gelaufen, in bestehende Konflikte und Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Die Innenstädte von Großstädten, so Thomas Balistier, boten sich zur damaligen Zeit besser an, um mit einer großen Menschenmenge friedlich zu demonstrieren.

Lichterketten wurden zumeist von Privatpersonen organisiert. Sie galten daher in gewisser Weise als „Demokratie von unten“, also als Initiative aus der Zivilgesellschaft Volk heraus. Die Menschen zeigten durch ihre Präsenz, so die Stuttgarter Zeitung vom 21. Dezember 1992, dass „sie die Verfassung mit ihren Grundrechten zu ihrer eigenen Angelegenheit machen und nicht noch einmal zerstören lassen wollen“. Dennoch ging es bei den Lichterketten gegen Gewalt und Fremdenhass in den 1990er-Jahren nicht um das Artikulieren politischer Forderungen, sondern vielmehr um die Symbolik, um das Zeichensetzen und das Nach-außen-Tragen der inneren Gesinnung und gemeinsamer Werte. Nichtsdestotrotz nahmen die Lichterketten indirekt auch eine wichtige Funktion für die Politik ein. Sie zeigten, dass es so nicht weitergehen konnte, dass etwas unternommen werden musste. In den Reihen der Demonstrierenden traf man nicht nur auf die „normale“ Bürgerschaft, sondern vielerorts auch auf kirchliche Würdenträger und Kommunalpolitiker. Selbst wenn einige Politiker, Institutionen und sogar Firmen zur Teilnahme aufriefen, die Initiative ging meist von der Bevölkerung selbst aus.

Bedeutung und Symbolik der Lichterketten

Ihre Symbolik haben die beiden Aktionsformen Menschen- und Lichterkette gemein: „Die Kette wird zum Symbol des kollektiven Willens solidarischen Widerstands“ (Balistier 1994: 209). Bei Symbolhandlungen, zu denen Lichterketten gezählt werden können, ist es im ersten Moment gleichgültig, wie viele Teilnehmer mobilisiert werden können, denn schließlich geht es darum, das Richtige zu tun – und das gelingt auch mit wenigen. Anfang der 1990er-Jahre beteiligten sich jedoch außerordentlich viele Menschen, um ihre innere Anteilnahme und Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen. Genau dafür braucht es Symbolhandlungen, um „etwas mitzuteilen, was in der gesprochenen Sprache entweder nicht oder immer nur implizit gesagt wird oder was sich breitenwirksam gar nicht ins Wort bringen lässt“ (Hilpert 1993: 517). Die Lichterketten vermochten es also zu „sprechen“, und zwar nicht nur wie von Hilpert beschrieben, sondern auch durch die Kerzen an sich. Mit Leuchtschriften, gestaltet durch gezielt angeordnete Kerzen, fanden einige Lichterketten gegen Gewalt und Fremdenhass nicht nur implizit eine Stimme, sondern trugen für sie wichtige Botschaften auch explizit nach außen.

Darüber hinaus hatten die Lichterketten weitere symbolische Bedeutungen: Feuer in seiner reinsten Form als Kerze, als Zeichen der Wärme, Liebe und Hoffnung, wird eingesetzt, um gegen hasserfülltes Auflodern und Brandstiftungen anzugehen. Dieses Phänomen des Feuer-mit-Feuer-Bekämpfens beschreiben auch zahlreiche Sprichwörter, die sich allesamt auf die Lichterketten übertragen lassen. So waren die Lichterketten ein kleines Fünkchen Hoffnung in einer dunklen Zeit und ein stilles, aber warmes Licht für all diejenigen, die sich aufgrund der Feindseligkeiten und gegen Ausländer gerichteten Gewalttaten in Deutschland nicht mehr sicher fühlten. Oder, um es in den Worten von Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung Die ZEIT, zu sagen: „Die Idee war eben die Lichterkette, also die Kerze gegen die Brandsätze, das Schweigen gegen das Grölen des Mobs wie in Rostock-Lichtenhagen.“

Nicht nur positive Resonanz

Auch wenn die Resonanz zu den Lichterketten zumeist positiv ausfiel, so gab es durchaus auch kritische Stimmen im Volk und in der medialen Berichtserstattung: Die einen befürchteten, dass einige Menschen durch die Teilnahme an den Lichterketten ihre eigentliche Gesinnung verschleiern könnten. Andere wiederum vermuteten unter den Demonstranten eine Vielzahl an „Trittbrett-Kerzenhaltern“ (SZ, 19.12.1992), Mitläufer, die die Teilnahme zur öffentlichen Selbstinszenierung nutzten, statt wirklich hinter der Sache zu stehen und die zur Schau gestellte menschliche Nächstenliebe auch sonst zu leben. Manchen reichte das Kerzenhalten nicht aus, schließlich sei den Menschen damit auch nicht wirklich geholfen. Der Eindruck, es sei genug gemacht worden, wäre durch die Lichterketten schnell geweckt, dabei gehöre wenig Zivilcourage dazu, sich in eine leuchtende Menge zu stellen (Balistier 1994: 206). Einige bemängelten zudem die Aufmachung der Lichterketten, die ohne gängige Protestmittel wie Reden, Parolen und Abschlusskundgebungen veranstaltet wurden.
Ingeborg Höch, die Initiatorin der Stuttgarter Lichterkette, berichtete von viel positiver Resonanz. Sie erhielt Danksagungen, Glückwünsche und Lob für ihr Engagement, aber auch Hass-Post und höchst unfreundliche, zumeist anonyme Anrufe.

Bundesweit entstehen Lichterketten gegen Gewalt und Fremdenhass

Eine der bundesweit ersten großen Lichterketten wurde am 6. Dezember 1992 in München veranstaltet. Idee und Organisation gingen auf die private Initiative einiger weniger zurück. Gil Bachrach, Giovanni di Lorenzo, Christoph Fisser und Chris Häberlein wollten nicht länger zuschauen und ein Zeichen gegen Fremdenhass setzen. Unter dem Motto Lichterkette München – eine Stadt sagt Nein schafften sie es, rund 400.000 Menschen zu mobilisieren, die am Nikolaustag gegen Gewalt, Intoleranz, Antisemitismus und Rechtsradikalismus demonstrierten.

 

Dem Beispiel Münchens folgten in den nächsten Wochen und Monaten zahlreiche andere Städte wie Frankfurt oder Rostock. Eine ähnlich große Lichterkette wie in München wurde in Hamburg initiiert. In Düsseldorf fanden sich 120.000, in Cottbus 100.000 Menschen zur stillen Leucht-Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit zusammen. In wurde am 30. Januar 1993 eine Lichterkette organisiert, um am 60. Jahrestag an die Machtübernahme Hitlers zu erinnern. Die Kerzen der Demonstranten schrieben die Worte Nie wieder. Diese sollten in Erinnerung an die deutsche Geschichte und in Anbetracht der gegenwärtigen Ereignisse zur Menschlichkeit mahnen.

Auch in Baden-Württemberg entstanden nach dem Beispiel Münchens Lichterketten. Am 20. Dezember 1992 gingen Schätzungen zufolge 120.000 Menschen mit Lichtquellen auf die Straßen Karlsruhes. Die Lichterkette gegen Fremdenhass war bis dato die größte Demonstration, die die Stadt je gesehen hatte. In der Studentenstadt Tübingen fanden sich etwa 10.000, in Aalen rund 6.000 und in Rottweil am Neckar 4.000 Demonstrierende zusammen. Die Lichterkette in der Landeshauptstadt Stuttgart verzeichnete mit 120.000 Demonstranten eine ähnlich große Teilnehmerzahl wie Karlsruhe.

Ein Lichtermeer erhellt Stuttgart im Advent

Am 23. November 1992 starben drei türkische Frauen bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag in Mölln. Neun weitere Menschen erlitten Verletzungen. Dieses Ereignis traf die Wahl-Stuttgarterin Ingeborg Höch schwer. Spätestens ab diesem Zeitpunkt konnte sie nicht länger zuschauen und wurde Ende des Jahres tätig. Was in anderen Städten wie Hamburg und München möglich ist, sollte auch in Stuttgart möglich sein, dachte sich die damals 51-Jährige und griff zum Telefonhörer.

Gemeinsam mit Mitgliedern der damaligen Friedensinitiativen Weilimdorf und Feuerbach sowie der Kurdin Nilüfer Kaba und dem türkeistämmigen Mitbürger Gökay Sofuoglu gelang es ihr, innerhalb kürzester Zeit die Organisation einer Lichterkette in Stuttgart anzustoßen. Unterstützung fand die Lektorin unter anderem auch beim Arbeitskreis Ausländer und Deutsche miteinander in Feuerbach, dem DGB, den Grünen und der SPD. Auch in der Bevölkerung waren das Engagement und der Unterstützungswille groß. Zahlreiche Privatpersonen, Kirchengemeinden, Schulklassen und Firmen boten ihre Hilfe an. Das Flugblatt, das Ingeborg Höch entworfen und per Post zum Beispiel an die Stuttgarter Zeitung geschickt hatte, wurde bald in großen Mengen kopiert und verteilt. Allein tausend Stück vervielfältigte ein Süßwarenhersteller und ließ sie in Stuttgarter Supermärkten auslegen.

Das Unternehmen Daimler-Benz spendete Kerzen, ein Getränkehändler rund 20.000 Getränke für die Demonstrierenden. Um zu gewährleisten, dass auch alle ihr Ziel erreichten, fuhr die Stuttgarter Straßenbahn (SSB) mit zehn Sonderbahnen. Zudem wurden private Parkgelände zu Park&Ride-Plätzen umfunktioniert. Eine Waldorfschule organisierte eine Schülerdemonstration mit dem Titel Schüler gegen Rassismus, die der eigentlichen Lichterkette am Mittag vorausging.

Am vierten Advent, dem 20. Dezember 1992, war es schließlich so weit. Um 17 Uhr fanden sich rund 120.000 Menschen auf den Straßen Stuttgarts und vor allem auf dem Schlossplatz ein, um gegen Rechtsextremismus und für ein friedliches Miteinander zu demonstrieren. Die Lichterkette war ein voller Erfolg. Es kamen rund 100.000 Menschen und damit deutlich mehr, als Ingeborg Höch erwartet bzw. erhofft hatte. Gute 45 Minuten lang gedachten die Demonstranten auf knapp elf Kilometern den schrecklichen Ereignissen und protestierten in Stille für ein friedliches Miteinander. Die Lichterkette erstreckte sich von Bad Cannstatt über den Schlossplatz bis hin zum Marienplatz. Der geplante Verlauf wurde im Voraus in mehreren Zeitungen abgedruckt:

Der Stuttgarter Zeitung zufolge lebten 1992 rund 139.000 ausländische Menschen sowie weitere 19.000 Kriegsflüchtlinge in der Landeshauptstadt. Fast genauso viele Teilnehmer zählte die Lichterkette am vierten Advent. Hier reihten sich nicht nur deutsche Bürger, sondern ebenfalls Menschen anderer Nationalitäten ein. Alle protestierten gemeinsam für dasselbe Ziel, dieselben Werte und für eine bessere Zukunft: Dafür, dass sich solche Untaten wie in Mölln oder Rostock-Lichtenhagen nie mehr wiederholen sollten.

Weiter Aktionen gegen Ausländerfeindlichkeit in Baden-Württemberg

Vielerorts in Baden-Württemberg beschränkte sich das Engagement nicht nur auf die Lichterketten. Mehrere Schulen überlegten sich eigene Demonstrationsformen. So zogen beispielsweise über 800 Schüler und Eltern in zwei Demonstrationszügen am 19. Dezember 1992 durch Weilimdorf. Mit selbstgebastelten Plakaten, auf denen Sätze wie „Stoppt den Fremdenhaß“ oder „Alle sind fast überall Ausländer“ zu lesen waren, machten sie auf den Ausländerhass aufmerksam. In Mannheim fanden sich rund 2.000 Schüler und Lehrkräfte in einer Menschenkette zusammen. Auf einem großen Schild vermerkten sie die Herkunftsländer ihrer ausländischen Mitschüler. Die Aufschrift „Wir verstehen uns“ verdeutlichte den Zusammenhalt in der Schülerschaft (SZ, 21.12.1992).

Auch in ihrer Freizeit gab es für Jugendliche Möglichkeiten, sich zu engagieren. In Rottweil am Neckar feierten beispielsweise 1.800 junge Erwachsene in einer „Disco gegen Ausländerfeindlichkeit“ (Stuttgarter Nachrichten, 21.12.1992). Die DLRG-Jugend Baden-Württemberg demonstrierte eine ganze Woche lang auf unterschiedlichste Art und Weise: Die Jugendlichen überlegten sich verschiedene Solidaritätsaktionen, legten Schweigeminuten ein, hielten Mahnwachen vor Hallenbädern, sprachen mit Betroffenen rechtsextremistischer Anfeindungen, gingen Schweigemärsche oder schalteten Anzeigen in Zeitungen.

Am 21. Januar 1993 veranstaltete das Land Baden-Württemberg einen Aktionstag gegen Gewalt und Fremdenhass. An diesem Tag kam es landesweit zu Demonstrationen in Form von Menschenketten und Lichtermärschen. Luftballons stiegen als Zeichen des Friedens in den Himmel auf und zahlreiche Mitarbeiter legten ihre Arbeit kurzzeitig nieder. Zudem nahm das Thema Ausländerfeindlichkeit einen Schwerpunkt in den Schulstunden ein.

Fazit

Auch wenn es nach der deutschen Wiedervereinigung immer wieder zu fremdenfeindlichen Gewalttaten und Ausschreitungen kam, zeigten die zahlreichen Lichterketten, dass es auch anders gehen kann, dass die schweigende Mehrheit eben nicht hinter den Gewalttaten stand – oder um nochmals den Musiker David Hanselmann zu zitieren, „dass Menschen zueinanderstehen, egal, ob schwarz, ob weiß“. Die Münchener Lichterkette ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass eine kleine Idee, ein kleines Licht in der Dunkelheit ein wahres „Lauffeuer“ auslösen und zu etwas Großem werden kann. Mit ihrer Teilnahme an den daraufhin bundesweit veranstalteten Lichterketten setzen die zahlreichen engagierten Menschen ein klares Zeichen: Sie leuchteten an gegen den aufflammenden Fremdenhass und verwandelten das tödliche Feuer durch ihre Initiative in ein Symbol für Toleranz und Nächstenliebe.

Weiterführende Infos

Literaturhinweise

ÜBERBLICK: ERINNERUNGSORTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Dieser Text enstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Seminar für Zeitgeschichte und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in der sich Studierende im Sommersemester 2022 mit weiteren Erinnerungsorten in Baden-Württemberg beschäftigt haben.
Weitere Texte aus diesem Seminar:

Queere Erinnerungskultur in Baden-Württemberg (Timo Mäule)

Displaced Persons im deutschen Südwesten (Paul Düring)

Die schwäbische Kehrwoche (Stephanie Raunegger)

Identität und Rivalität – Fußball in Baden-Württemberg (Hendrik Schirner)

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