Die schwäbische Kehrwoche

Stephanie Raunegger

Bei einer Aufzählung schwäbischer Klischees steht die Kehrwoche immer mit an vorderster Stelle. Sie wird als „besondere Marotte“ (Brenneisen 2014: 5) bezeichnet, als „pedantischer Putzfimmel“, als „(Un-)Sitte“ oder als „schwäbische Nationaltugend“ (Reichert 1991: 6).

Was hat es mit der Kehrwoche auf sich? Wie ist sie entstanden, und warum gibt es sie in dieser Form nur im schwäbischen Raum? Geht es bei der Kehrwoche tatsächlich nur um die Sauberkeit? Oder steckt vielleicht noch mehr dahinter? Denn wie erklärt sich sonst das Phänomen, dass auch geputzt wird, wenn gar kein Schmutz vorhanden ist? Und schließlich: Handelt es sich bei der schwäbischen Kehrwoche um einen Erinnerungsort? Diesen Fragen soll in diesem Dossier nachgegangen werden.

Die Kehrwoche: Begriff und Regeln

In der Bezeichnung „Kehrwoche“ stecken zwei ganz grundsätzliche Bestandteile dieses Brauchs: Das Kehren (= Fegen) und der wöchentliche Rhythmus beziehungsweise die wöchentlich wechselnde Zuständigkeit. Bei der Kehrwoche handelt es sich um ein geregeltes System oder Verfahren der Reinigung bestimmter Flächen und Bereiche in und vor dem Haus.

Das entscheidende Element der Kehrwoche ist der wöchentliche Wechsel derjenigen, die für die Kehrwoche verantwortlich sind. Dabei wechselt die Zuständigkeit in der Nacht von Samstag auf Sonntag, denn die Kehrwoche beginnt nicht am Montag, sondern schon am Sonntag. An der Kehrwoche nimmt jede einzelne Partei des Hauses teil, und die Kehrwoche wandert jede Woche von einer Partei zur nächsten. In welcher Reihenfolge dieser Wechsel erfolgt und welche Flächen gereinigt werden müssen, wird meist im Mietvertrag oder in der Hausordnung festgeschrieben. Streng genommen richtet sich die Kehrwoche damit nur an Mehrfamilien- oder Mietshäuser. Denn wer allein in seinem eigenen Haus wohnt, kann grundsätzlich erst einmal selbst entscheiden, wann, wie oft und wie gründlich geputzt wird. Es gibt also keine Bindung an bestimmte Wochen im Jahr, in denen man für die Kehrwoche zuständig ist, und niemanden, mit dem man sich bei der Kehrwoche abwechselt. Allerdings ist diese Freiheit durchaus begrenzt. Gerade für den Winter gibt es beispielsweise Vorschriften über die Räumung von Schnee und Eis auf Gehwegen, die bei Unterlassung sogar mit Geldbußen bestraft werden können.

Doch auch in anderen Regionen und Bundesländern gibt es Regelungen zur Reinigung gemeinschaftlich genutzter Räume und Wege. In Berlin wird die Reinigung etwa vom Hauswart übernommen und die Kosten werden auf die Wohnparteien verteilt. Doch gibt es auch anderswo Regelungen, die der schwäbischen Kehrwoche stark ähneln, etwa in Bayern.

Zur Geschichte der Kehrwoche

So sehr, wie die Schwaben und Schwäbinnen dem Klischee zufolge an ihrer Kehrwoche hängen, fällt es schwer zu glauben, dass die Kehrwoche gar nicht „von unten“, also aus dem Volk selbst heraus entstand. Tatsächlich war es vielmehr die Obrigkeit, die die Kehrwoche einführte und ihrem Volk verordnete.

Allerdings entstand die Kehrwoche auch nicht aus dem Nichts. Ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung zum 300jährigen Jubiläum der Kehrwoche im Jahr 2014 betonte etwa, dass lediglich „eine ihrer Grundlagen“ ihren 300. Geburtstag feierte. Wenngleich die Kehrwoche in ihrer heutigen Form also wohl noch keine 300 Jahre alt ist, scheinen bereits früher erste Formen einer Art Kehrwoche existiert zu haben.

Schon Graf Eberhard im Bart (1445–1496, ab 1495 erster Herzog von Württemberg) sorgte sich um die Sauberkeit der Straßen seiner Residenzstadt. 1492 erließ er für Stuttgart eine Verordnung, nach der „jeder seinen Mist alle Woche hinausführen, jeder seinen Winkel alle vierzehn Tage, doch nur bei Nacht, sauber ausräumen und an der Straße nie einen anlegen“ solle (Reichert 1991: 19). Für die Verordnung gab es zwei Gründe. Zum einen war im 14. Jahrhundert begonnen worden, die Straßen großer Städte zu pflastern. Weil dies sehr teuer war, bestand großes Interesse daran, die Straßen zu schonen und sauber zu halten. Zum anderen war Stuttgart mit dem Problem konfrontiert, dass der anfallende Abfall nicht wie in anderen Städten einfach über einen durchs Stadtinnere fließenden Fluss aus der Stadt hinaustransportiert werden konnte, denn der Neckar war zu weit vom Stadtzentrum entfernt und der Nesenbach zu klein, um den gesammelten Abfall einer spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Stadt abzuführen (Sonntag 2006: 122). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Stuttgarter Bevölkerung ihren Unrat nicht trotzdem in den Nesenbach schüttete. Verbote der Obrigkeit halfen wenig, und weder der unerträgliche Gestank im Sommer noch das Risiko für die Gesundheit schreckte die Bevölkerung davon ab, noch bis ins 19. Jahrhundert ihren Mist in den Nesenbach zu werfen (Sauer 1995: 126 f.).

Doch nicht nur der Nesenbach stellte ein dauerhaftes Problem dar. Auch die Straßen wurden nicht so gepflegt, wie die Obrigkeit sich dies wünschte. So erließ etwa Herzog Christoph (1515–1568) im Jahr 1565 ein Reskript, in dem er die regelmäßige Reinigung der Gassen befahl. Knapp sechzig Jahre später, im Februar 1622, beklagte auch Herzog Johann Friedrich (1582–1628) die Verschmutzung der Gassen (Sauer 1993: 79, 84). Dennoch lockerte er noch im selben Jahr die Pflichten: Nun mussten die Straßen nur noch einmal im Monat gereinigt und der Mist nur noch alle zwei Monate aus der Stadt gebracht werden. Vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges scheinen andere Themen für die Obrigkeit Vorrang gehabt zu haben. Dies rächte sich jedoch, als die Pest Stuttgart erreichte und zwischen 1634 und 1638 rund 8.800 Menschen in der Stadt starben.

Unter Herzog Eberhard Ludwig (1676–1733) erschien im Jahr 1714 eine neue Gassensäuberungsverordnung, die festlegte, dass „[d]er Unrath aus Kloaken und Winkeln [….] künftig bei Nacht vor die Tore gebracht werden [solle], durch eigens hiezu bestellte, von der Stadt zu belohnende Kärrner, in hohen, mit Glöcklein versehenen Truhenkarren.“ Stuttgart hatte damit eine Art Müllabfuhr eingerichtet (Reichert 1991: 20).
Am 13. April 1740 erschien die nächste Verordnung, in der dann erstmals vom „Kehren“ die Rede war (Unseld 1997: 87). Dies sollte nun zweimal pro Woche, nämlich mittwochs und samstags, erfolgen und wurde von einem „Gassensäuberungsinspektor“ kontrolliert. Bereits sechs Jahre später erließ Herzog Carl Eugen (1728–1793) eine revidierte Gassenordnung und 1754 folgte schon die nächste. Diese blieb immerhin zwanzig Jahre lang in Kraft, ehe auch sie ersetzt wurde. Die Verordnungen übernahmen meist einen Großteil der Bestimmungen der vorgehenden Ordnungen, ergänzten oder präzisierten sie jedoch, änderten kleinere Details ab oder fügten Vorschriften hinzu. Außerdem wurden sie gedruckt und jeder Stuttgarterin und jedem Stuttgarter ausgehändigt: Niemand sollte behaupten können, er habe nichts von seinen Pflichten gewusst.

1811 wurde mit der „Erneuerten Straßen-Polizei-Ordnung“ für die beiden württembergischen Residenzstädte Stuttgart und Ludwigsburg die Kehrwochenpflicht auf drei Tage pro Woche ausgeweitet: Zusätzlich zum Mittwoch und Samstag sollte nun auch am Montag gekehrt werden. Dass die Kehrwoche hier in der Polizeiordnung verankert wurde, weist auf die Ernsthaftigkeit hin, mit der die Obrigkeit die Reinhaltung der Straßen behandelte. Nicht alle Stuttgarter und Stuttgarterinnen schienen diese Ernsthaftigkeit jedoch zu teilen. So beschwerte sich beispielsweise 1846 ein Stuttgarter in einem Leserbrief an eine Stuttgarter Zeitung über die Verunreinigung der Eberhardstraße „am hellen Tage“ (Reichert 1991: 21).

Nichtsdestotrotz sorgten die Verordnungen dafür, dass sich die Kehrwoche allmählich zur Gewohnheit und dann zum Brauch entwickelte. Zwar konnte sich der Montag nicht als Kehrwochentag halten, doch wurde zumindest noch bis Ende des letzten Jahrhunderts zusätzlich zum fest etablierten Samstag auch mittwochs gekehrt.

Einen Einschnitt erlebte die Kehrwoche am 17. Dezember 1988. In der „Satzung über das Reinigen, Räumen und Bestreuen der Gehwege in Stuttgart“ wurde die Formulierung „mindestens jedoch einmal wöchentlich“ gestrichen. Nun mussten die festgelegten Flächen nur noch „bei Bedarf“ gekehrt werden (Sonntag 2006: 122 f.). Die Stuttgarter und Stuttgarterinnen waren von dieser Änderung wenig begeistert. Oberbürgermeister Manfred Rommel sah sich genötigt, klarzustellen, dass diese Änderung lediglich öffentliche Gehwege und Straßenflächen der Stadt beträfe. Denn die Reinigung privater Flächen wie Hausflure oder Treppenhäuser sei in Mietverträgen und Hausordnungen geregelt. Die Kehrwoche wurde daher weniger abgeschafft als vielmehr flexibler gestaltet – und das auch nur hinsichtlich der öffentlichen Flächen. Gleichwohl merkte Rommel an: „Wenn’s bei ons no z’drecket wird, führet mr d‘Kehrwoch‘ halt wieder ei“ (= Wenn es dann bei uns zu dreckig wird, führen wir die Kehrwoche wieder ein) (Brenneisen 2014: 19).

Funktionen der Kehrwoche: Mehr als nur Sauberkeit

Die Kehrwoche – beziehungsweise ihre Vorläufer – wurde also zunächst nur in Stuttgart eingeführt. Grund dafür war Stuttgarts Status als Residenzstadt. Als solche hatte Stuttgart andere Funktionen zu erfüllen als die anderen Ortschaften im Herrschaftsgebiet. In der Residenzstadt wurde repräsentiert – nicht zuletzt auch die zeitgenössische Vorstellung von Reinlichkeit. Entsprechend wurde die „Erneuerte Straßen-Polizei-Ordnung“ von 1811 nicht nur für Stuttgart, sondern auch für Ludwigsburg herausgegeben, da Herzog Friedrich I. (1754–1816) die Stadt 1797 zu seiner Sommerresidenz ernannt hatte. Nichtsdestotrotz breitete sich die Kehrwoche mit der Zeit im ganzen Herrschaftsgebiet aus. Polizeiverordnungen wurden von Kommune zu Kommune weitergereicht und übernommen; man orientierte sich an der Residenzstadt. Auch in den kleinen Ortschaften wird daher gekehrt, auch heute noch. Allerdings wird hier seltener von der Verrichtung der Kehrwoche gesprochen, denn auf dem Land sind vor allem Einfamilienhäuser zu finden. Die „richtige“ Kehrwoche, bei der man sich mit dem Kehren abwechselt, kann jedoch, wie oben ausgeführt, nur in Miets- und Mehrfamilienhäusern stattfinden.

Neben Sauberkeit und Repräsentativität ging es der Obrigkeit mit ihren Verordnungen auch um die Vermittlung der schwäbischen Tugenden des Schaffens und des Besitzpflegens. Dass sich die Kehrwoche vor allem an Mietshäuser beziehungsweise Mehrfamilienhäuser richtet, deutet darauf hin, dass die Obrigkeit die Auffassung vertrat, der arbeitenden und mietenden Bevölkerung müsse das tradierte, verankerte Verhältnis zum Haus erst verordnet werden (Unseld 1997: 85 f.).

Die Verrichtung der Kehrwoche

Wie läuft die Kehrwoche also ab? Alles beginnt mit dem Kehrwochenschild. Am Sonntagmorgen hängt es plötzlich vor der Wohnungstür, und man weiß, jetzt ist man selbst an der Reihe. Tatsächlich kann man jedoch für gewöhnlich die ersten Tage ruhig angehen lassen. Das eigentliche Schaffen (=Arbeiten) steht nämlich erst am Samstag an. Nun darf den Schwaben und Schwäbinnen nicht unterstellt werden, sie wollten sich vor der Arbeit drücken und zögerten die Verrichtung der Kehrwoche deshalb möglichst weit hinaus. Dass die Kehrwoche auch heute noch samstags verrichtet wird, hat sogar zwei gute Gründe: Zum einen soll es am Sonntag in und vor dem Haus sauber aussehen. Zum anderen wird man am Samstag eher von den Nachbarn beim Kehren gesehen als an den anderen Tagen zuvor, an denen die Nachbarschaft bei der Arbeit ist. Auf die Bedeutsamkeit des Gesehenwerdens bei der Verrichtung der Kehrwoche soll später noch einmal genauer eingegangen werden.

Zurück zu den Kehrwochenschildern. Es gibt sie in allen Farben und Formen. Auf älteren Schildern wurde noch der Gassensäuberungsinspektor beschworen, um auf den Ernst der Kehrwochenarbeit hinzuweisen. Andere Schilder erläutern ausführlich, welche Bereiche zu putzen sind. Neuere Schilder sind oft kleiner; meist befinden sich darauf nur noch das Wort „Kehrwoche“ und einige kehrwochentypische Verzierungen wie Kehrbesen, Kuttereimer und -schaufel oder Wischmopp.

Doch was ist nun eigentlich bei der Kehrwoche zu tun? Das kommt zunächst einmal darauf an, ob die „große“ oder die „kleine“ Kehrwoche verrichtet werden muss. Die „kleine Kehrwoche“ bedeutet in einem Mehrfamilienhaus die Reinigung des Treppenhausbereichs vor der eigenen Wohnungstür sowie des Treppenabschnitts, der zum nächsten Abschnitt hinunterführt. Mit der „kleinen Kehrwoche“ wechseln sich wöchentlich die Wohnparteien ab, deren Wohnungen auf demselben Stockwerk liegen.

Die „große Kehrwoche“ umfasst zwei Bereiche: die Außenkehrwoche und die Innenkehrwoche. Bei der Außenkehrwoche geht es, wie der Name vermuten lässt, um den Außenbereich des Hauses: Gekehrt wird der Gehweg und der Bordstein, der Stellplatz der Mülltonnen, der Zugang zur Haustür, und – sofern vorhanden – die Einfahrt zu den Garagen, der Hof und die Außentreppen. Daneben sollten die Haustür, die Briefkästen und die Knöpfe der Klingelanlage gereinigt werden. Bei der Innenkehrwoche wird das Treppenhaus vom Dachgeschoss bis in den Keller gewischt, die Fenster im Treppenhaus und Keller geputzt und – falls vorhanden – der Wasch- und Trockenraum gereinigt. Mit der „großen Kehrwoche“ wechseln sich alle Wohnparteien ab. Dabei gibt es also mehr zu tun als bei der „kleinen Kehrwoche“, dafür ist man aber seltener an der Reihe (Brenneisen 2014: 40, 75).

Ein besonderes Erlebnis ist die Kehrwoche im Winter. Bei Schnee und Eis erübrigt sich zwar das Kehren, dafür muss nun aber Schnee geschippt werden, und das womöglich nicht nur einmal in der Woche, sondern gleich mehrmals – so oft eben, wie Schnee liegt. In Stuttgart muss der Schnee auf den Gehwegen von Montag bis Freitag bis 7:00 Uhr geräumt sein, am Samstag bis 8:00 Uhr und an Sonn- und Feiertagen bis 9:00 Uhr. Die Räumpflicht dauert bis 21:00 Uhr an. Schneit es also tagsüber erneut, muss man den Schnee nochmals räumen. Mit Schneeschippen allein ist es jedoch meist nicht getan. Denn sind die Gehwege vereist, besteht Rutsch- und damit Verletzungsgefahr. Dem kann nur durch Streuen und Salzen entgegengewirkt werden. Der Einsatz von Streusalz ist jedoch in vielen Gemeinden verboten, da es dem Boden und der Vegetation schadet. Stattdessen sollte mit Splitt, Sand oder Granulat gestreut werden.

Ausrüstung der Kehrwoche

 

Wer die Kehrwoche ordentlich erledigen will, braucht die richtige Ausstattung. Entscheidend ist natürlich der Kehrbesen, denn ohne ihn wird es mit dem Kehren nichts. Daneben braucht man eine Kehrschaufel, einen Handfeger und einen Eimer. Der zusammengefegte Dreck muss schließlich auch ordentlich entsorgt werden. Auch wenn die Versuchung groß sein mag, den Dreck einfach in den nächsten Gully zu kehren, sollte man dies besser sein lassen. Denn wenn sich zu viel Dreck in dem Schlammeimer unter dem Gullydeckel ansammelt, kann das Wasser nicht mehr richtig ablaufen.

Dies kann bei Starkregen schwerwiegende Folgen haben. Das Verschmutzen von Gullys wird daher mit einem Bußgeld bestraft.

Im Winter wird der Kehrbesen gegen eine Schneeschaufel eingetauscht und ein Eimer mit dem bereits erwähnten Streumaterial bereitgestellt.
Für die Innenkehrwoche wird ein Wischmopp beziehungsweise ein Putzlumpen und ein Eimer Wasser benötigt, denn im Treppenhaus reicht es nicht, einmal von oben nach unten durchzufegen. Hier muss nass gewischt werden, um den Boden vom Schmutz zu befreien, den die Nachbarn an ihren Schuhen in das Haus hineingetragen haben. Für das Treppengeländer, die Türgriffe, die Klingelanlage und die Briefkästen, die bei der Kehrwoche ebenfalls gereinigt werden müssen, braucht man darüber hinaus noch ein Staub- und Poliertuch.

Werte der Kehrwoche: Subsidiarität, Verlässlichkeit und Demokratieverständnis

Bei der Kehrwoche geht es nicht allein um Sauberkeit. Oben wurde schon ausgeführt, dass mit Sauberkeit auch Repräsentativität verknüpft ist, ebenso wie die als schwäbische Tugend wahrgenommene Pflege des Besitzes. Daneben vermittelt die Kehrwoche noch weitere Werte.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann bezeichnete die Kehrwoche einmal als „gelebte Subsidiarität“ (Brenneisen 2014: 85). Die unterste Ebene übernimmt die Aufgaben, die sie eigenständig lösen kann. Gerade im Winter bei Schnee und Eis ist es effizienter, wenn sich jedes Wohnhaus bzw. eine Wohnpartei innerhalb des Wohnhauses um den eigenen kleineren Abschnitt des Gehwegs kümmert, als wenn die Stadtreinigung durch die ganze Stadt fahren und alle Gehwege allein räumen muss.
Die Kehrwoche kann auch zur Gemeinschaftsbildung beitragen. Alle beteiligen sich daran, den gemeinschaftlich genutzten Raum sauber zu halten. Dadurch entsteht beim Einzelnen ein Gefühl der Verantwortung für den öffentlichen Raum. Überträgt man die Reinigung hingegen an andere, fördert dies Gleichgültigkeit: Man kann den öffentlichen Raum verschmutzen wie man möchte, schließlich zahlt man ja für seine Reinigung. Führt man hingegen die Kehrwoche ordentlich durch, signalisiert man damit den anderen, dass man ihre Vorstellungen von Reinlichkeit akzeptiert. Hierzu gehört das vielleicht absurd wirkende Phänomen, dass auch geputzt wird, wenn gar nicht unbedingt Bedarf besteht. 1988 wurde diese Regelung in Stuttgart für öffentliche Straßen zwar abgeschafft, doch sie besteht weiter im privaten Raum. Es geht bei der Kehrwoche auch um das Ritual, um die Bereitschaft, etwas für die Allgemeinheit zu tun. Das zeigt Verlässlichkeit und schafft Vertrauen. Sauberkeit wird so zur Gemeinschaftsaufgabe. Dies ist auch ein Ausdruck von Demokratieverständnis, denn alle kümmern sich um den Schmutz aller anderen.

Konfliktpotential der Kehrwoche

Die eben beschriebenen positiven Auswirkungen der Kehrwoche zeigen sich jedoch nicht immer. Bei der Kehrwoche treffen die verschiedensten Vorstellungen von Sauberkeit aufeinander, und das kann zu Konflikten führen. Nicht ohne Grund gibt es das Klischee der älteren Nachbarn, denen es einfach nicht recht gemacht werden kann. Auch das strikte Beharren darauf, dass die Kehrwoche auch gemacht werden muss, wenn kein Schmutz zu sehen ist, löst oftmals Unverständnis und Verärgerung aus. Hier wird die Kehrwoche zur sozialen Kontrolle.

Doch es gibt verschiedene Methoden, den Hausfrieden zu bewahren. Es empfiehlt sich beispielsweise, eine Kehrschaufel und einen Eimer aus Metall zu verwenden. Klopft man den Schmutz von der Schaufel in den Eimer, entsteht ein spezieller Lärm, der der Nachbarschaft signalisiert, dass die Kehrwoche erledigt wird. Im Winter bei Schneefall ist dieser Effekt noch wirkungsvoller, denn der Schnee muss schon früh morgens geräumt sein. Im Dunkeln, noch halb verschlafen, nimmt man Geräusche lauter wahr, als sie eigentlich sind. Wenn man also mit der Schneeschaufel über den Asphalt fährt, um den Schnee wegzuräumen, weiß die ganze Nachbarschaft, dass man seinen Pflichten nachkommt. Zwei weitere Empfehlungen bestehen darin, Fußmatten zu verschieben und einen Strohbesen zu benutzen, der bald Abnutzungserscheinungen zeigt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass oft und vor allem fleißig gekehrt wurde.

Neben den Konflikten mit den direkten Nachbarn kann es auch Spannungen mit der Nachbarschaft aus den angrenzenden Häusern geben. Grund dafür ist die Grundstücksgrenze, die nicht immer eindeutig erkennbar ist oder über die der zusammengefegte Schmutz vom einen auf das andere Grundstück gekehrt wird, um sich das Bücken und Aufsammeln des Schmutzes zu sparen.

Die Kehrwoche als Schauspiel

Der „Putzzwang“ der Schwaben und Schwäbinnen wird oft belächelt und verspottet, doch dabei wird meist übersehen, dass es bei der Kehrwoche eben nicht nur um Sauberkeit geht. Die Werte, die durch die Kehrwoche vermittelt werden, wurden bereits angesprochen. Eine weitere Facette der Kehrwoche ist ihr Theatercharakter (Brenneisen 2014: 6), der sich im letzten Abschnitt bereits abgezeichnet hat. Denn ein großer Teil der Kehrwoche ist Schauspiel, ein Theaterstück.

Die Grundlage des Schauspiels „Kehrwoche“ bildet das Problem, dass der Schmutz leider schneller ist, als es der Kehrbesen oder der Putzlappen je sein wird. Das Ergebnis also, für das schwer geschafft wurde, ist nur für kurze Zeit zu bewundern, ehe der Wind wieder Blätter auf den Gehweg weht oder ein Nachbar mit schmutzigen Schuhen durch das Treppenhaus läuft. Dabei ist es doch zwingend, dass die Nachbarschaft mitbekommt, wie die Kehrwoche verrichtet wird, denn sonst könnte man am Ende noch mit dem Vorwurf konfrontiert werden, man nehme die Kehrwoche nicht ernst.

Die Kehrwoche stellt eine Inszenierung dar: Man will gesehen werden und die eigene Arbeit gewürdigt wissen. Einige Methoden, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen, wurden bereits aufgeführt, doch es gibt noch weitere. Wichtig ist insbesondere der Zeitpunkt, zu dem gekehrt wird. Der Samstag wurde schon in den herzoglichen und königlichen Verordnungen als einer der Kehrwochentage festgelegt. Daneben bleibt heute bei voller Berufstätigkeit meist nur am Wochenende Zeit, die Kehrwoche zu verrichten. Hinsichtlich des Theatercharakters der Kehrwoche bietet der Samstag jedoch auch den Vorteil, dass die Nachbarschaft in der Regel zuhause ist und Zeuge der Kehrwochenpflichterfüllung werden kann.

Auch die wesentlichen Elemente eines Theaterstücks sind bei der Kehrwoche gegeben: Die Darstellerin oder der Darsteller rekrutiert sich aus der oder dem Kehrwochenpflichtigen, das Publikum aus der Nachbarschaft. Das Treppenhaus und der Gehweg bilden die Bühne, Kehrbesen, Kehrschaufel, Wischmopp und Wassereimer die Requisiten. Auch Kostüme gibt es – Kittel und Hut für ihn, Kittelschürze und Kopftuch für sie –, auch wenn diese heutzutage wohl nur noch von der älteren Generation getragen werden, während die Jüngeren in Jeans und T-Shirt kehren.

Ein Teil des Theaterstücks beruht auf Improvisation, denn schließlich kann nicht jede Kleinigkeit vorherbestimmt werden. Doch viele Handlungsabläufe sind beabsichtigt und geplant; hinter einigen Konstellationen steckt eine wohldurchdachte Überlegung. Zu Letzterem gehört etwa die Auswahl des Materials, aus dem die Requisiten gemacht sein sollen. Zur Improvisation könnte man das Geplauder mit den Nachbarn zählen, die vorbeikommen, um sich das Spektakel aus nächster Nähe anzusehen. Hier bietet sich die Kehrwoche selbst als Gesprächsstoff an – und trägt so dazu bei, die nachbarschaftliche Verständigung und den Zusammenhalt zu stärken.

Die schwäbische Kehrwoche – ein Erinnerungsort?

Bei der schwäbischen Kehrwoche handelt es sich um einen lebendigen Erinnerungsort. Sie ist eine Tradition, ein Ritual, das im Alltag und Leben vieler Schwäbinnen und Schwaben einen echten Stellenwert hat (Brenneisen 2014: 6). Sie vermittelt Werte, die für die Gesellschaft von Bedeutung sind. Die Kehrwoche wird noch immer praktiziert, ernst genommen und auch als Thema immer wieder aufgegriffen. Selbst dann etwa, wenn eine Hausgemeinschaft entscheidet, einen Kehrwochendienst zu beschäftigen, bietet sie noch Gesprächsstoff: Zum einen kann man sich nun über die Gründlichkeit des Kehrwochendienstes unterhalten, zum anderen wird die Entscheidung, einen Kehrwochendienst zu beauftragen, bei den Schwaben und Schwäbinnen wohl viel bewusster getroffen als anderswo: Kehrwochendienste kosten Geld, und auch wenn die schwäbische Sparsamkeit ebenso ein Klischee ist wie der schwäbische Putzfimmel, verbirgt sich dahinter doch ein wahrer Kern. Und weil die Übertragung der Kehrwochenarbeit an andere hier eben keine Tradition hat, handelt es sich dabei um bisher völlig unbekannte Kosten für eine Arbeit, die man bisher immer selbst erledigte. Vor der Beauftragung eines Kehrwochendiensts wird also tendenziell viel diskutiert und abgewogen, ob man sich dem Neuen zuwenden oder lieber doch weiter nach alter Tradition verfahren soll.

Die Kehrwoche ist präsent – vielleicht nicht überall im württembergischen Landesteil, aber doch in vielen Gebieten. Der „Schock“, der 1988 durch Stuttgart ging, als die Vorschriftsänderung bekannt wurde, zeigt die Verbundenheit der Stuttgarter und Stuttgarterinnen mit der Kehrwoche. Weitere Belege finden sich jedoch auch in jüngeren Jahren und nicht nur für Stuttgart. Hier drei Beispiele:

1998 erlaubte sich die Volkshochschule Calw einen Aprilscherz, indem sie einen Kehrwochen-Kompaktkurs anbot. Der fünfmal angebotene dreistündige Kurs mit einer Kursgebühr von 135 DM sollte neben einem theoretischen Teil über die „historisch-soziologische Bedeutung der Kehrwoche“ auch einen praktischen Teil mit Übungen zum richtigen Gebrauch des Kehrbesens umfassen. Für den Kurs, dessen Beginn auf den 1. April gelegt wurde, gingen über 100 ernst gemeinte Anmeldungen ein.

Seit 1998 findet in Stuttgart jährlich die Aktion Let’s putz Stuttgartstatt. Bei dem Wettbewerb sammeln möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in Gruppen den Müll in ihrem Stadtteil auf. Der Stadtteil, in dem die meisten Freiwilligen mithelfen (gemessen an der Einwohnerzahl des Stadtteils), gewinnt ein Preisgeld.

2010 bot die Volkshochschule Ostfildern den – ernst gemeinten – Kurs Kehrwoche for Beginners an, der sich vor allem an Zugezogene richtete. Die Schwäbin Regine Diebold hatte bereits seit 28 Jahren Kurse in englischer Konversation unterrichtet und beschlossen, die schwäbische Lebensart mit der englischen Sprache zu verbinden.

Hinter der Kehrwoche steckt also viel mehr, als das Klischee des schwäbischen Putzfimmels vermuten lässt. Sie ist ein vorrangig städtisches Phänomen (Rumpel 1997: 31), das den Schwaben und Schwäbinnen zunächst von oben verordnet werden musste (und das mehrfach), ehe es zu einem festen schwäbischen Brauch wurde. Neben der Reinlichkeit ging und geht es bei der Kehrwoche auch um Repräsentativität ebenso wie um nachbarschaftlichen Zusammenhalt, Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem öffentlichen Raum. Die Kehrwoche bietet Konfliktpotenzial, aber auch Gesprächsstoff und hat „dramatische“ Aspekte, die man auf den ersten Blick nicht vermuten würde.

 

Weiterführende Infos

Literaturhinweise

Brenneisen, Wolfgang (2014): Mit Kehrwisch ond Kutterschaufel. Die Wahrheit über die schwäbische Kehrwoche, Biberach.

Reichert, Andreas (1991): Die Schwäbische Kehrwoche. 2. Aufl., Rothenburg ob der Tauber.

Rumpel, Frank (1997): Kehren und Bekehrtes, in: Utz Jeggle (Hrsg.): Schwabenbilder. Zur Konstruktion eines Regionalcharakters, Tübingen, S. 31–34.

Sauer, Paul (1993): Geschichte der Stadt Stuttgart, Bd. 2: Von der Einführung der Reformation bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Stuttgart.

Sauer, Paul (1995): Geschichte der Stadt Stuttgart, Bd. 3: Vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Abschluß des Verfassungsvertrags für das Königreich Württemberg 1819, Stuttgart.

Schukraft, Harald (1999): Wie Stuttgart wurde, was es ist. Ein kleiner Gang durch die Stadtgeschichte, Tübingen.

Sonntag, Christoph (2006): Schwäbische populäre Irrtümer. Ein Lexikon, Berlin.

Unseld, Werner (1997): Schaffensparenputzen. Die württembergische Verbesserung der Sünder und die schwäbischen Produktivkräfte, in: Utz Jeggle (Hrsg.): Schwabenbilder. Zur Konstruktion eines Regionalcharakters, Tübingen, S. 79–88.

Wilkens, Katrin (1997): Schwabentum als Performance. Dr. Ulrich Keuler – Ein Porträt, in: Utz Jeggle (Hrsg.): Schwabenbilder. Zur Konstruktion eines Regionalcharakters, Tübingen, S. 193–196.

ÜBERBLICK: ERINNERUNGSORTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Dieser Text enstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Seminar für Zeitgeschichte und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in der sich Studierende im Sommersemester 2022 mit weiteren Erinnerungsorten in Baden-Württemberg beschäftigt haben.
Weitere Texte aus diesem Seminar:

Queere Erinnerungskultur in Baden-Württemberg (Timo Mäule)

20. Dezember 1992 – Die Stuttgarter Lichterketten gegen fremdenfeindliche Gewalt (Sophia Rilling)

Displaced Persons im deutschen Südwesten (Paul Düring)

Identität und Rivalität – Fußball in Baden-Württemberg (Hendrik Schirner)

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