Identität und Rivalität–Fußball in Baden-Württemberg

Hendrik Schirner

Zweite Minute der Nachspielzeit – Eckball. Die Mannschaft steht bereit, das ganze Stadion bangt. Ein Treffer trennt an diesem 14. Mai 2022 den VfB Stuttgart vom rettenden Klassenerhalt am letzten Spieltag der Saison 2021/22. Ein Treffer, der über den Verbleib in der Bundesliga oder den möglichen Abstieg in die Zweite Liga entscheidet. Zuvor hatte bereits Borussia Dortmund gegen Hertha BSC, den direkten Konkurrenten des VfB, getroffen. Die Hoffnung auf Platz 15 lebt also, einzig das Tor fehlt. Der Eckball kommt, Verlängerung zum zweiten Pfosten, Kopfball, Tor. „Der absolute Wahnsinn!“, ruft Sportkommentator Wolff Fuss. Die knapp 50.000 Fans des VfB Stuttgart hält nichts mehr auf den Rängen. Sie stürmen den Platz und feiern den direkten Klassenerhalt ihres Vereins.
 
Dieses Ereignis, das wie der Gewinn der Meisterschaft des VfB Stuttgart im Jahr 2007 in das kollektive Gedächtnis eingehen könnte, wirft auch die Frage auf, inwieweit der Fußball in Baden-Württemberg eine identitätsstiftende Wirkung hat. Welche Rolle spielt dabei die Geschichte des Sports, der Ende des 19. Jahrhunderts nach Südwestdeutschland kam? Wie konnte er sich in der Gesellschaft verankern und zum Volkssport Nummer eins werden? Neben der regionalen Identität der Vereine wie dem VfB Stuttgart oder dem SC Freiburg sowie der Verbände wie dem Badischen, Südbadischen oder Württembergischen Fußballverband trägt auch die Rivalität zur Popularität des Fußballs bei. In Baden-Württemberg betrifft dies regionale Aufeinandertreffen, Derbys genannt, wie etwa zwischen dem VfB Stuttgart und dem SC Freiburg oder zwischen dem Karlsruher SC und dem VfB Stuttgart. Diese Fragen werden im folgenden Dossier thematisiert.

Baden-Württemberg als Wiege des deutschen Fußballs? Gründungsgeschichte und Anfänge des Sports

Oftmals wird Braunschweig als Ort angegeben, an dem durch einen vom Lehrer Konrad Koch organisierten freiwilligen Spielnachmittag im Jahr 1874 das erste Fußballspiel in Deutschland stattgefunden haben soll. Allerdings berichtet die Badische Zeitung bereits ein Jahr zuvor über ein „Fußball-Wettspiel“ in Heidelberg, das am 13. März 1873 zwischen dem „Kannstatter und dem hiesigen Fußballklub“ stattgefunden haben soll. Einen Sieger gab es dabei nicht. Weiterhin ist die Rede von einem Spiel am darauffolgenden Montag zwischen Frankfurt und Heidelberg. Die Spieldauer zwischen dem Heidelberger und dem Cannstatter Team orientierte sich dabei an der Abfahrt des Zuges der Gäste. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Regeln des „engl. Fußball-Wettspiels“ noch sehr denen des heutigen Rugbys ähnelten, wurde hier wohl zum ersten Mal im Deutschen Reich über ein Spiel namens „Fußball“ berichtet.
 
Der Fußball hat seine Ursprünge in England, wo sich seit den 1820er-Jahren an den Public Schools Ballspiele zwischen zwei Mannschaften entwickelten. Das Deutsche Reich stand dem neuen Sport, der vor allem eine Sache des englischen Bildungsbürgertums war, zunächst kritisch gegenüber. Insbesondere die Turner – im Kaiserreich die populärste Sportart – sahen in dem Ballspiel eine ernsthafte Konkurrenz und verpönten ihn als „englische Modetorheit“ und „Fußlümmelei“. Da sich der neue Sport in den deutschen Schulen jedoch großer Beliebtheit erfreute, formierte sich auch dort Widerstand mit dem Argument, der Sport biete „Gefahren für die Moral“ der Schüler. Dennoch gründeten sich im deutschen Südwesten die ersten, meist kurzlebigen Vereine. Unter der Regie des Fußballpioniers Walther Bensemann wurde 1891 der Karlsruher Fußballverein (KFV) gegründet. In Freiburg gründeten Studenten sechs Jahre später den Freiburger Fußballclub (FFC) und in Stuttgart wurde bereits 1890 der Cannstatter Fußball-Club ins Leben gerufen. Er trug maßgeblich zur Gründung des FV Stuttgart 1893 bei, einem der Vorgängervereine des heutigen VfB Stuttgart.

Der Großherzog beim Fußball – die gesellschaftliche Verankerung des neuen Sportes

In den folgenden Jahren erfolgte die schrittweise Verankerung des Fußballs in der Gesellschaft. Neu geschaffene Strukturen wie die Gründung von regionalen Verbänden und schließlich des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) im Jahr 1900 ermöglichten Fußballspiele über Stadt- und Landesgrenzen hinaus. In Karlsruhe führte beispielsweise die bürgerliche Organisation des Karlsruher Fußballvereins – die Mitglieder rekrutierten sich hauptsächlich aus Schülern, Studenten, Angestellten und Kaufleuten – zum Interesse des Großherzogs Prinz Max von Baden, der 1905 die Schirmherrschaft über den KFV übernahm. Im gleichen Jahr zog der Verein auf einen größeren Fußballplatz am Rande der heutigen Nordweststadt um. In Anwesenheit Max von Badens besiegte der KFV zur Einweihung des neuen Platzes den FC Zürich mit 8:0. Das Ereignis fand Eintrag in die Karlsruher Chronik – auch deshalb, weil der Großherzog dem Spielwart des KFV einen von ihm gestifteten Pokal überreichte.

Die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs zeigt sich auch in steigenden Mitglieder- und Zuschauerzahlen. Der Freiburger Fußballclub konnte beispielsweise nicht nur 1898/99 die erste Süddeutsche Meisterschaft für sich entscheiden, sondern stellte auch den ersten badischen Verein, der eine Deutsche Fußballmeisterschaft gewann. Das Endspiel, ausgetragen am 19. Mai 1907 in Mannheim gegen Viktoria Berlin, sahen 3.000 Zuschauer (Bräunche 2011: 66 ff. und 81).

Organisation durch Machtkämpfe – die ersten Verbandsgründungen in Baden-Württemberg

Eine entscheidende Rolle bei der Etablierung des Fußballs spielt die Gründung von Verbänden, die wiederum Spiele und Meisterschaften organisieren. Die erste süddeutsche Fußballverbandsgründung erfolgte am 3. Juli 1893 durch Walther Bensemann. Aufgrund innerer Streitigkeiten und der zu geringen Anzahl von Vereinen, die einen regelmäßigen Spielbetrieb unmöglich machten, löste sich der Verband jedoch bereits zwei Jahre später wieder auf. Eine eigenständige Meisterschaft hatte nicht stattgefunden, stattdessen wurden Freundschaftsspiele im lokalen Umfeld ausgetragen, da längere Reisen in weiter entfernt liegende Städte noch nicht zu finanzieren waren.

Wesentlich erfolgreicher verlief die Gründung des Süddeutschen Fußball-Verbandes im Jahr 1897. Der erste regionale Fußballverband, der über längere Zeit Bestand hatte, trug nicht nur 1898/99 die erste süddeutsche Meisterschaft mit acht Vereinen aus, sondern organisierte auch Spiele gegen ausländische Mannschaften. Letzteres geschah auf Initiative von Gründer Bensemann, der den Fußball als „publikumsträchtigen und Identität stiftenden Volkssport“ sowie als „Symbol der Völker-Verständigung“ fördern wollte. Seine Aktivitäten, wie beispielsweise Gastspiele der englischen Football Association im Deutschen Reich, führten schließlich zum Ausschluss des Fußballpioniers aus dem Süddeutschen Fußball-Verband, da dieser den Sport zunächst als „deutsches Spiel“ etablieren wollte. Nach der Gründung des Deutschen Fußball-Bundes als Dachverband im Jahr 1900 entwickelte sich der Süden Deutschlands zum größten und einflussreichsten Regionalverband. Personifiziert durch den langjährigen Vorsitzenden Friedrich Wilhelm Nohe kam es zu Machtkämpfen mit dem DFB und anderen Regionalverbänden. Nach seiner Abwahl als DFB-Präsident beabsichtigte Nohe die Spaltung des Dachverbandes und versuchte, den Süddeutschen Fußball-Verband aus dem DFB zu führen. Nach zweijährigen Streitigkeiten verweigerte ihm 1907 die Mehrheit der Delegierten des Verbandes die Gefolgschaft und stimmte gegen den Austritt aus dem DFB. Nohe musste daraufhin die Konsequenzen ziehen und zurücktreten (Bräunche 2011: 63 ff.).

Nach einer wechselvollen Geschichte – Umbenennungen, die Auflösung im Jahr 1933 – existiert der Süddeutsche Fußball-Verband als ältester Regionalverband auch heute noch. Er umfasst neben den drei Landesverbänden aus Baden-Württemberg auch jene aus Hessen und Bayern. Dem Verband gehören knapp 10.000 Vereine mit über drei Millionen Mitgliedern an. In Baden-Württemberg haben sich der Württembergische Fußball-Verband (WFV), der Badische Fußballverband (BFV) sowie der Südbadische Fußball-Verband (SBFV) etabliert. Gemeinsam verwalten die Landesverbände die Oberliga Baden-Württemberg (Fünfte Liga). Darüber hinaus sind die Verbände Gesellschafter für die eine Klasse höhere Regionalliga Südwest.

Volkssport Nummer eins? Fußball in der Identitätsforschung

Heute ist der Fußball die beliebteste Sportart in Deutschland. Der Boom des Fußballinteresses begann in den 1920er-Jahren, als sich neue Freizeitkulturen bildeten. Fußball wurde bald medial und auch politisch in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, nicht zuletzt wurden auch neue Stadien gebaut. Zudem trugen die identitätsstiftenden Merkmale des Sports immer mehr zu seiner Popularität bei: Fußball bietet nicht nur die individuelle Entfaltung des Spielers, sondern auch das übergeordnete Interesse eines Mannschaftssportes. Der Ausgleich zwischen beiden Faktoren und die Abgrenzung durch den Wettbewerb mit anderen Mannschaften fördert das Interesse. Hinzu kommt das Zusammenspiel von Spielern, Fans und Vereinen. Fans schaffen sich durch das gemeinsame Erlebnis im Stadion, etwa durch das Zeigen von Choreografien oder das Tragen der Vereinsfarben, eine Identität, die in Abgrenzung zu anderen Vereinen verstärkt wird. Durch diese kollektive Identifizierung gelingt es auch, dass bestimmte Ereignisse rund um den Fußball in das kollektive Gedächtnis übergehen und bisweilen auch mythisch aufgeladen werden (Pyta 2004: 1–15; Herzog 2003: 34 ff.).

Regionale Identität im baden-württembergischen Fußball

Als Mannschafts- und Wettbewerbssport bietet der Fußball die Möglichkeit, sich mit Spielern, die mit Stolz für ihren Verein und für ihre Region spielen, zu identifizieren. Eine Mannschaft, die sich durch eine starke regionale Identität auszeichnet, besteht hauptsächlich aus Spielern, die sich mit der Region des Vereines verbunden fühlen. So stellt der VfB Stuttgart beispielsweise heraus, dass er nicht nur die Stadt Stuttgart, sondern die Region Württemberg und Schwaben repräsentieren möchte. Als Voraussetzung dafür sollte die Mannschaft vorwiegend aus Spielern der eigenen Jugend oder der Region bestehen. In der Saison 2013/14 betraf dies sechs Spieler des Profikaders, in der Saison 2022/23 sind es derer zwei. Gleichzeitig, so die Clubführung, gibt es einen Zusammenhang zwischen sportlichem Erfolg, der Herkunft der Spieler und der regionalen Identität. So werden vom Verein die Meisterschaften des VfB aus den Jahren 1950 und 1952 auf das Zusammenspiel dieser Faktoren zurückgeführt. Ein weiteres Merkmal regionaler Identität kann beispielsweise auch das Stadion mit seiner symbolischen Bedeutung für Stadt und Region sein. Auch das vielfältige Engagement des Vereins in Belangen, die über das rein Sportliche hinausgehen, tragen dazu bei. Letztlich sorgt auch die Berichterstattung in den Medien dafür, dass der Fußball und seine Vereine in der Öffentlichkeit bekannt sind. Diese Öffentlichkeit wird häufig von Vertretern der Mannschaften genutzt, um deren Rolle für die regionale Identität zu unterstreichen (Gómez-Bantel 2016: 693 ff.; Herzog 2004: 183 f.).

„Die WildenSchwaben“ – Fans und Identität

Der Fußball gilt für die Vereinsanhänger als Identifikationsmöglichkeit, unter anderem, weil zwischen Spielern und Fans eine Identifikationsbrücke im Ausleben positiver und negativer Emotionen besteht. Durch einheitliche Kleidung, Fahnen und Hymnen der Fans in den Stadien drücken diese ihre regionale Verbundenheit aus. So auch in den Namen der Ultra- und Fangruppierungen des VfB Stuttgart: Diese heißen etwa „Commando Cannstatt“ oder „Die WildenSchwaben“. Die emotionale Bindung der Vereinsanhänger an ihre Heimatregion wird auf den jeweiligen Fußballverein als Repräsentant dieses Heimatbezuges projiziert. Dabei spielen die sportlichen Erfolge des Vereines eine große Rolle, da sie einen Prestigegewinn sowohl für den Verein als auch für die Region bedeuten.

Fusion, Meisterschaften, Krieg – die Anfangsjahre des SC Freiburg

Regionale Identität lässt sich vor allem auch am Beispiel des badischen SC Freiburg verdeutlichen. 1904 gründete sich der Freiburger Fußballverein im Vereinslokal des Freiburger Turnerbundes. Die Vereinsfarben waren – und sind es bei heute – Schwarz und Weiß, die Spieler rekrutierten sich vorwiegend aus höheren Bürgerschulen. Der Verein wurde in den Süddeutschen Fußball-Verband aufgenommen und bestritt erste Spiele. Noch im selben Jahr gründete sich im Stadtteil Stühlinger der FC Schwalbe, der bereits ein Jahr später in FC Mars umbenannt wurde. Auf den Beitritt des FC Mars zum Süddeutschen Fußball-Verband sowie einer erneuten Umbenennung im Jahr 1908 folgte schließlich die Fusion der beiden Vereine. Ab dem 3. März 1912 spielten sie unter dem bis heute bestehenden Namen SC Freiburg. 1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, tauchte erstmals der Greif im Vereinswappen auf. Während der Kriegsjahre wurde der SC Freiburg zweimal Oberrhein-Meister, 1918 gelang zusammen mit dem Freiburger FC sogar der Gewinn der Südkreismeisterschaft.

Nach dem Ersten Weltkrieg war der SC Freiburg zunächst eine Abteilung der Freiburger Turnerschaft, 1923 wurde er schließlich ausgegliedert. Ein Jahr später feierte der mittlerweile rund 1.000 Mitglieder zählende Verein sein zwanzigjähriges Jubiläum: Gespielt wurde in der Bezirksliga Baden-Württemberg, der damals höchsten Spielklasse. Das neu errichtete Winterer-Stadion diente dem SC seit 1928 für knapp zehn Jahre als Spielstätte. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Verein gleichgeschaltet und ein neuer „Vereinsführer“ aus den Reihen der NSDAP bestimmt. Sportlich lief es eher durchwachsen: Ein Jahr wurde in der höchsten Spielklasse gespielt, die restlichen Kriegsjahre bis 1944 in der zweiten oder dritten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der SC kurzzeitig in VfL Freiburg umbenannt, bevor 1952 die Neugründung als Sport-Club Freiburg e. V. erfolgte. Im Jahr 1955 wurde erstmals auf dem „SC-Platz an der Dreisam“ gespielt, der ab 1967 Dreisamstadion hieß. In den folgenden Jahren war der Aufstieg in den Profifußball und der rund 15-jährige Verbleib in der zweithöchsten Spielklasse von Bedeutung. Der Verein wuchs und erste Fanclubs wurden gegründet.

1993 erfolgte der Aufstieg in die Erste Bundesliga und die zweimalige Teilnahme am europäischen Pokalwettbewerb (1995 und 2001). Es folgten zwei Abstiege, jeweils mit direktem Wiederaufstieg (1997/98 und 2002/03). Nach dem erneuten Abstieg in die Zweite Bundesliga (2005) gelang dem Verein 2009 der erneute Wiederaufstieg in die Erste Bundesliga, 2012 erneut die Teilnahme am UEFA-Pokal. Auf einen Abstieg erfolgte 2016 der direkte Wiederaufstieg. Besonders erfolgreich verlief die Saison 2021/22: Der SC Freiburg konnte nicht nur den sechsten Platz in der Bundesliga erreichen, sondern zum ersten Mal auch das Finale des DFB-Pokals. Das altehrwürdige Dreisamstadion bot am 16. Oktober 2021, dem 8. Spieltag der Saison 2021/22, zum letzten Mal die Kulisse für ein Spiel des Sportclubs. Danach erfolgte der Umzug in das neu gebaute Europa-Park-Stadion.

„Ich fühle mich wohl, ich bin in der Heimat“ – regionale Identität des SC Freiburg

Das Zitat des SC-Spielers Christian Günter aus einem Auftritt im ZDF sportstudio am 6. September 2019 beschreibt die Verbundenheit des Spielers zu seinem Verein, der seit 2006 im Sportclub aktiv und in der Region aufgewachsen ist. „Ich glaube, ich habe viele Beispiele gesehen, bei denen der Heimatverein zu früh verlassen wurde und Karrieren anders verlaufen sind“, sagt der 29-Jährige weiter. Spieler wie Christian Günter, Matthias Ginter oder Nicolas Höfler, die allesamt in der Region in und um Freiburg aufgewachsen sind und die Jugendstationen des Vereins durchlaufen haben, bilden ein zentrales Element in der regionalen Identifikation mit dem Sportclub. Gleiches gilt für die Berichterstattung in den Medien: Hier widmet etwa die Badische Zeitung dem SC Freiburg eine eigene Rubrik, die auch über die zweite Mannschaft, die Junioren sowie die Frauenmannschaft berichtet.

Auch das Dreisamstadion trug lange Jahre zur Identitätsstiftung des SC Freiburg bei. Immer wieder wurde von Fangruppen mit Choreografien auf die Geschichte des Stadions und seine Bedeutung hingewiesen. Auch der Verein selbst spielte immer wieder auf den Charme des „etwas in die Jahre gekommenen Stadions“ mit dem „um fünf Meter zu kurzen Spielfeld“ oder dem „um einen Meter abfallenden Platz“ an. Weiter hieß es: „Der Stimmung tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil. Spieltage im Dreisamstadion mit unseren Fans waren daher immer auch Festtage.“ Den Anspruch der Identitätsstiftung hat der Verein auch an das neu errichtete Europa-Park-Stadion: „Das Europa-Park Stadion soll zur neuen Heimat des Sport-Clubs werden, Identität stiften […].“

Schließlich zeigt sich die Verbundenheit mit der Region auch bei den Fanclubs: Sie tragen häufig Namen, die den Wunsch ausdrücken, der Club möge eine Rolle als Repräsentant der Region übernehmen. Eine Fangruppe nennt sich beispielsweise „Immer wieder Freiburg“. Der seit mehr als zehn Jahren bestehende Fanclub schreibt auf seiner Webseite: „Möglichst kreativ, bunt und laut, aber auch kritisch wollen wir unseren Verein bei seinen Spielen begleiten.“ Zur regionalen Identität trägt auch bei, dass sich Vereinsanhänger des Sportclubs hauptsächlich als Badener und Freiburger fühlen, wobei das Einzugsgebiet vorwiegend die Stadt und deren unmittelbares Umfeld umfasst (Mölbert u. a. 1995/96).

Gesänge als Merkmal der Fanidentität

Neben dem Zeigen der Vereinsfarben, dem Gestalten von Choreografien oder der Zugehörigkeit zu Fangruppierungen entsteht regionale Identität im Kontext des Fußballs auch über gemeinsame Gesänge. Diese beeinflussen sowohl die Atmosphäre des Stadions, haben eine unterstützende Wirkung auf die Spieler und entfalten für die singenden Fans eine psychologische Wirkung. Durch das gemeinsame Singen entsteht nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl, sondern auch eine Beschäftigung, die der Stressbewältigung während des Spiels dient. Ein weiteres Merkmal betrifft die Abgrenzung zur gegnerischen Mannschaft und deren Fans: Diese werden häufig direkt adressiert. Dabei wird versucht, sie durch noch lauteres Singen zu überstimmen. Dieses Ritual findet auch beim Sportclub aus Freiburg Anwendung, wo vor jedem Heimspiel das Badnerlied gesungen wird.

„Der Schwob muss raus“ – Das Badnerlied beim SC Freiburg

Das Badnerlied wird heute vor allem noch bei Sportveranstaltungen gesungen. Sowohl der Handballverein Rhein-Neckar-Löwen, der Eishockeyverein EHC Freiburg als auch die Fußballvereine TSG Hoffenheim, Karlsruher SC und SC Freiburg spielen das Badnerlied bei ihren Heimspielen. Für die Untersuchung der regionalen Identität des SC Freiburg sind die Gründe für das Mitsingen des Badnerlieds im Stadion aufschlussreich. So singt der Großteil der Fans wegen der Stimmung im Stadion mit, gefolgt von der Verbundenheit zur Region Baden und der Zugehörigkeit zum Sportclub. Untersuchungen ergaben auch, dass die Bereitschaft zum Mitsingen bei Angestellten und Schülern, hier vor allem Haupt- und Realschüler, am höchsten ist. Hanno Franke, Marketingleiter des SC Freiburg, sagt dazu: „Beim Badnerlied sind die Zuschauer gespalten. Die eine Hälfte findet es super, anderen ist es zu pathetisch und altmodisch. Viele finden es trashig, schräg und schön zum Mitsingen. Anderen gefällt es, weil sie sich als Badener fühlen“ (Mölbert u. a. 1995/96).

Eine Abgrenzung, besonders zur Region Schwaben, erfolgt durch die Abwandlung der Textzeilen „Frisch auf, frisch auf, frisch auf, frisch auf, mein Badnerland!“. Dieses wird durch „Der Schwob muss raus, der Schwob muss raus, Der Schwob muss raus ausm Badnerland!“ ersetzt. Dass eine Mehrzahl der Fans des SC Freiburg die Bezeichnung als „Schwabe“ unangenehm findet und sich nur ein geringer Teil der Vereinsanhänger über einen Sieg des VfB Stuttgart freut – bei einem Sieg des Karlsruher SC sind es deutlich mehr –, zeigt die identitätsstiftende Wirkung der Abgrenzung und Rivalität zu anderen Regionen und Vereinen (Mölbert u. a. 1995/96).

Diese Identitätsstiftung durch Rivalität wird vor allem von Vereinsanhängern gepflegt, die so ihre eigene Identität stärken und hervorheben wollen. Darüber hinaus üben Derbys – Fußballspiele, bei der zwei meist rivalisierende Sportvereine einer Region aufeinandertreffen – eine besondere Anziehungskraft auf die Fans aus. Derbys sind somit Schauplätze symbolischer Auseinandersetzungen, die Ausdruck regionaler Rivalitäten sind. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Berichterstattung in den Medien, wodurch diese Fußballspiele emotional aufgeladen und in einen übergeordneten sowie historischen Kontext eingeordnet werden, um weitere Attraktion zu schaffen (Gómez-Bantel 2016: 696).

Historische Brisanz – Das „Ländle-Derby“

Der Fußball in Baden-Württemberg ist eng mit regionalen Rivalitäten verknüpft, die auf den historischen Gegebenheiten der beiden Länder Baden und Württemberg sowie auf der Südweststaatgründung 1952 beruhen. Am bekanntesten ist das Derby zwischen dem VfB Stuttgart und dem Karlsruher SC, nicht zuletzt, weil beide Mannschaften vor allem in den 1950er-Jahren erfolgreich waren: Der VfB konnte 1950 und 1952 die deutsche Meisterschaft gewinnen, der KSC wurde 1955 und 1956 Pokalsieger. Darüber hinaus waren beide Teams die einzigen Repräsentanten aus Baden-Württemberg bei der Gründung der Bundesliga 1963.

„Es ist Krieg“ – Der Kampf um Dominanz

Bei diesem Derby spielen Gesänge, Choreografien und Spruchbänder eine wichtige Rolle. Sie bieten die Möglichkeit, Aggressionen in Form von Beschimpfungen in einer Weise zu artikulieren, wie es bei der Einhaltung sozialer Normen nicht möglich wäre. Die Rivalität zwischen KSC und VfB ist dabei eng mit der regionalen Zugehörigkeit verbunden, wie ein Fangesang der Stuttgarter zeigt: „Oh VfB Stuttgart/ du bist unser Leben/ für unsere Farben/ werden wir alles geben/ wir hassen Baden/ und den KSC/ denn wir sind die Roten vom VfB“. Ähnliche Fangesänge gibt es auch beim KSC: „Wir sind zurück im Oberhaus/ und treten jetzt die Schwaben raus/ Stuttgart zieh die Laufschuh' an/ Karlsruh' kommt mit alle Mann“.

Ein weiteres Mittel, um die Rivalität auszudrücken, sind Spruchbänder. So zeigten Vereinsanhänger des KSC im Derby 2016 ein Banner mit der Aufschrift: „Es ist wie Krieg“, wobei das „wie“ durchgestrichen war. Im Stuttgarter Block war „Den Fächer fürs Gesindel – Das Zepter für uns“ zu lesen – eine Anspielung auf die Stadt Karlsruhe, die auch als „Fächerstadt“ bezeichnet wird, weil ihr Stadtplan von oben betrachtet an einen Fächer erinnert. Teilweise erfolgt auch eine Bezugnahme auf die gegnerischen Spruchbänder. Hielten KSC-Anhänger etwa ein Banner mit „Leere Dose, volle Hose – Schwäbische Profilneurose!“ hoch, so folgte die Antwort des VfB durch „Dicke Hose, Rumgepose – Badische Profilneurose!“.

Besonders anschaulich wird die regionale Identität beider Vereine bei den teils sehr aufwändigen Choreografien gezeigt. Vereinshänger des VfB kreierten beispielsweise das Bild eines Ritters, der das württembergische Wappen auf seinem Schild führt. Gleichzeitig war darunter der Wahlspruch von König Wilhelm I. von Württemberg zu lesen: „Furchtlos und treu.“ Das im Sommer 2014 eingeführte Vereinsmotto steht aufgrund dessen Bezug zum Ersten Weltkrieg als „völkisch“ und „nationalistisch“ in der Kritik. Der VfB erklärt es durch das Bekenntnis zum furchtlosen Fußball sowie der starken Bindung des Vereins zur Stadt und Region. So ist der Schriftzug auch auf dem Bus und auf jedem offiziellen Schriftstück der Cannstatter zu lesen, auf Visitenkarten jedoch nicht mehr – ein neuer, „variabler“ Einsatz soll gefunden werden. Auf der Anzeigetafel erschien die alte württembergische Landesflagge. Links und rechts des Ritters wurden ein Löwe und ein Hirsch in die Höhe gehalten – die Symbole Württembergs. Auch auf diese Choreografie wurde von den Fans des KSC geantwortet: Sie zeigten „Wir auf den Rängen und Ihr auf dem Rasen!“ in den badischen Farben Gelb und Rot. Dazu hieß es mit Bezug auf die Choreografie des VfB: „Commando Cannstatt – Mutlos und Scheu“.

Fazit

Regionale Identitäten im heutigen Volkssport Nummer eins sind historisch verankert: In Baden-Württemberg, dem Bundesland, in dem erstmals Fußball unter dem heutigen Namen gespielt wurde, geschah dies Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Gründung erster Vereine und Verbände führte zu einer besseren Organisation und zu einer gesteigerten Popularität, die eine größere Identifikation nach sich zog. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Fans, ihre Fanclubs, Gesänge oder Choreografien, anhand derer regionale Identität zum Ausdruck gebracht werden kann.
Als besonders prägnantes Beispiel für einen Verein mit starker regionaler Identität gilt der SC Freiburg. Er trägt durch seine Geschichte, durch die mediale Berichterstattung, seine Vereinsanhänger, deren Fanclubs sowie durch Lieder und Fan-Choreografien zur (regionalen Identitätsstiftung bei. Nicht zuletzt spielen dabei auch die Spieler des Vereins selbst eine Rolle, weil sie oftmals mit der Region verbunden sind und dies auch nach außen betonen.

Weiterführende Infos

Literaturhinweise

Bräunche, Ernst Otto: Aus der Frühzeit des Fußballs – badische Fußballhochburgen, in: Martin Furtwängler/Christiane Pfanz-Sponagel/Martin Ehlers (Hrsg.): Nicht nur Sieg und Niederlage. Sport im deutschen Südwesten im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2011, S. 59–87.

Gómez-Bantel, Adriano: Football Clubs as Symbols of Regional Identities, in: Soccer & Society 17 (2016), S. 692–702.

Herzog, Markwart: „Lautern ist eine große Sportfamilie!“ Fußballkultur als Faktor städtischer und regionaler Identität, in: Wolfram Pyta (Hrsg.): Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004, S. 183–214.

Herzog, Markwart: Von der „Fußlümmelei“ zur „Kunst am Ball“. Über die kulturgeschichtliche Karriere des Fußballsports, in: ders. (Hrsg.): Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kultur – Kommerz, Stuttgart 2002, S. 11–43.

Mölbert, Angelika/Ottmers, Clemens/Hinze, Dagmar: Regionales Bewusstsein der Stadionbesucher des SC Freiburg. Eine Studie des Seminars für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg in Zusammenarbeit mit dem Sport-Club Freiburg e. V., Wintersemester 1995/1996.

Pyta, Wolfram: Einleitung: Der Beitrag des Fußballsports zur kulturellen Identitätsstiftung in Deutschland. in: ders. (Hrsg.): Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004, S. 1–30.

ÜBERBLICK: ERINNERUNGSORTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Dieser Text enstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Seminar für Zeitgeschichte und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in der sich Studierende im Sommersemester 2022 mit weiteren Erinnerungsorten in Baden-Württemberg beschäftigt haben.
Weitere Texte aus diesem Seminar:

Queere Erinnerungskultur in Baden-Württemberg (Timo Mäule)

20. Dezember 1992 – Die Stuttgarter Lichterketten gegen fremdenfeindliche Gewalt (Sophia Rilling)

Displaced Persons im deutschen Südwesten (Paul Düring)

Die schwäbische Kehrwoche (Stephanie Raunegger)

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