Queere Erinnerungskultur in Stuttgart

Timo Mäule

Im Stuttgarter Oberen Schlossgarten, genau zwischen dem Opern- und Schauspielhaus, ist inmitten der sonst kahlen Waschbetonplatten ein nahezu unauffälliges Denkmal aus Kopfsteinpflaster eingelassen. Der Unterschied zwischen den beiden Bodenmaterialien ist so gering, dass Passanten meist darüber hinweggehen. Es scheint ein nahezu vergessener Erinnerungsort zu sein. Auf einigen der Pflastersteine stehen Namen: „Rolf“, „Michael“, „Karlo“ ist dort zu lesen. Auch prominente Namen lassen sich erkennen. Der Lyriker und Geschichtenerzähler Eberhard Bechtle oder der Leadsänger der britischen Band Queen, Freddie Mercury, sind auf den Steinen verewigt. Es sind Menschen, die alle etwas gemeinsam haben: Sie waren HIV-positiv und sind an der Immunschwäche-Erkrankung AIDS gestorben. Das Denkmal vor der Oper soll ihren Angehörigen und der Öffentlichkeit einen Erinnerungsort im Zentrum der Stadt geben. Die meisten der hier verewigten Personen eint jedoch noch ein anderes Merkmal: Sie waren homosexuell und gehörten zu dem, was heute als LSBTTIQ-Community bezeichnet wird (lesbisch, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und damit queere Community.

Ursprünge der queeren Erinnerungskultur

Öffentliche Erinnerungskultur ist zumeist heterosexuell. Die Lebenswelten von queeren Menschen kommen in ihr nur am Rande vor, denn meist wird nur an das erinnert, was die Öffentlichkeit kennt, was ein Großteil von ihr selbst erlebt oder im Schulunterricht und den Medien erfahren hat. Es ist also kaum verwunderlich, wenn über queere Geschichte bis heute nicht allzu viel bekannt ist. Dennoch gehört die Vergangenheit von LSBTTIQ-Menschen genauso in die Geschichte wie die NS-Zeit, die „68er“-Bewegung oder der Mauerfall. Ebensowenig verwunderlich ist, dass queere Geschichte bisher hauptsächlich innerhalb der eigenen Subkultur bearbeitet wurde. Diese Forschung an der eigenen Vergangenheit war Ausdruck des Bedürfnisses, die Erinnerung an den Kampf um Gleichberechtigung – der bis heute das zentrale Anliegen der Bewegung ist – wachzuhalten. LSBTTIQ-Geschichte und die Erinnerung daran sind damit ein queeres Produkt.

Diese Erkenntnis ist wichtig, um zu verstehen, warum Gedenken innerhalb der LSBTTIQ-Community anders funktioniert als in der „klassischen“ Erinnerungskultur. Die Kernanliegen der queeren Geschichtstradierung bewegen sich immer um zwei Felder: Repräsentation nach außen und Zusammenhalt nach innen. Während die Vertretung queerer Anliegen vor der Öffentlichkeit den weitaus bekannteren Teil dieser beiden Felder ausmacht, ist die Erschaffung eines community-internen Zusammengehörigkeitsgefühls und eines Vertrauensraumes grundlegend für das Funktionieren dieser Erinnerungsarbeit. Nur wenn man sich auf eine gemeinsame Geschichte berufen kann, funktioniert eine kollektive Erinnerungskultur. Dieser Mechanismus kommt auch bei anderen Minderheiten vor. Die Schaffung eines safe space nach innen ermöglicht das gemeinsame Vertreten von Interessen nach außen.

Gedenken ist in der Community dadurch auch ein Mittel des Sichtbarwerdens dieses immer sicherer gewordenen Raumes. Anhand der Unterdrückungsgeschichte von LSBTTIQ-Menschen verstärkt sich der Zusammenhalt innerhalb der Community. Erinnerungskultur ist damit ein Instrument, um das Ende der gesellschaftlichen Unterdrückung zu erreichen. Hinter diesem Konzept verbirgt sich ein Geschichtsbild, das von „schlecht“ zu „gut“ läuft und damit einem Fortschrittsnarrativ folgt. Im Gegensatz zur „klassischen“ Erinnerungskultur, die in Deutschland oftmals negative Abschnitte der Geschichte in das öffentliche Gedenken rückt und damit versucht, Lehren für die Zukunft zu ziehen, ist das Narrativ der LSBTTIQ-Gemeinschaft als eine Erfolgsgeschichte angelegt.

Doch wie kam es zu dieser Art der Erinnerungskultur? Um die Entstehung der queeren Bewegung zu verstehen und damit auch ihre Erinnerungsanker in der Geschichte nachzuvollziehen, hilft ein Blick auf die Ursprünge der LSBTTIQ-Bewegung. Denn ohne diese Ursprünge lassen sich die für die sonstige öffentliche Erinnerungskultur teils untypischen Orte queeren Erinnerns nur schwer verstehen.

 

Von „Stonewall“ bis Stuttgart

Wenn queere Geschichte erzählt wird, dann ist damit zumeist die jüngere Protestgeschichte der LSBTTIQ-Bewegung gemeint. Sie betrachtet vor allem die Phase des Kampfes um Gleichberechtigung von queeren Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber queere Geschichte hat damit keinesfalls begonnen. In Baden-Württemberg hat eine LSBTTIQ-Vergangenheit spätestens seit dem homosexuellen König Karl von Württemberg (1823–1891) eine weitaus längere Tradition. Dennoch prägte den offenen Aktivismus auch hierzulande vor allem das Leitnarrativ der Proteste um das New Yorker Stonewall Inn im Jahre 1969. In der Bar wehrten sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni und in den Folgenächten queere Personen gegen eine von der Polizei durchgeführte Razzia.

Bei solchen Razzien war es üblich, die Identität der Teilnehmenden offenzulegen und dadurch Menschen zu gefährden. Es drohte der Verlust von Status, Arbeitsplatz oder sogar die juristische Verfolgung.

In der Christopher Street führte die Gegenwehr der Bargäste und ihrer Unterstützergruppen zu mehrtägigen Straßenschlachten mit der Polizei, die auch international Aufmerksamkeit erregten. Die Berichterstattung war dabei fast ausschließlich gegen die Demonstrierenden gerichtet. Dadurch und durch die immer repressiveren Maßnahmen der Polizei wurde das Stonewall Inn zu einem Sammelpunkt der aktivistischen Szene. Die Gründung der nationalen Gay Liberation Front (GLF) und der Gay Activists Alliance (GAA) waren direkte Folgen der Wut über die staatlichen Repressalien. Dass das Stonewall Inn so zu einem lokalen wie nationalen Erinnerungsort für die Szene wurde, ist weitestgehend bekannt. Die Berichterstattung über die Ausschreitungen bewirkte aber noch etwas anderes: Außerhalb der New Yorker Subkultur und auch im Ausland erhielt das Thema öffentliche Aufmerksamkeit. „Stonewall“ kann deshalb als der erste internationale queere Erinnerungsort verstanden werden.

Vom Erinnerungsort zum Erinnerungsevent

Eine direkte Folge der Vorkommnisse um das Stonewall Inn waren die ersten Christopher-Street-Day-Paraden („CSD-Paraden“) als Demonstrations- und Erinnerungsevents sexueller Vielfalt innerhalb der Szene. Längst wird dabei nicht mehr nur innerhalb der Community an die Proteste in der Christopher Street erinnert, sondern in einer breiten Öffentlichkeit. Dass dieses Muster funktioniert, beweisen die vielen CSD-Paraden überall auf der Welt. Hier treffen community-interne und breite öffentliche Erinnerung in der Gesamtgesellschaft zusammen. Dabei ist es egal, ob in New York oder Stuttgart demonstriert wird, denn die Ausschreitungen von New York waren und sind auf die Ziele der Gleichberechtigung aller Homosexuellen (und inzwischen aller queeren Menschen) weltweit übertragbar. Jede Demonstration wird dadurch zu einem lebendigen Erinnerungsort. Durch die Verbindung mit „Stonewall“ war und ist immer klar, wofür man sich versammelt.

„Stonewall“ als internationaler Erinnerungsort funktioniert auch in Baden-Württemberg. In Stuttgart wurden bis 2020 noch jährlich CSD-Paraden abgehalten. Seit 2021 wird der neuere Begriff „Pride-Parade“ benutzt. Die Paraden für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sind heute international wie auch in Baden-Württemberg das größte Erinnerungsereignis der queeren Community.

Protest in Stuttgart

Die Stuttgart Pride ist dabei ein wichtiges Zentrum der süddeutschen Bewegung, denn sie gehört zusammen mit denen in Berlin und Köln zu den größten in Deutschland. Ihre Größe und die Reichweite ihrer Wahrnehmung zeigen, wie gut sich die von „Stonewall“ inspirierte lebendige Erinnerungskultur im Südwesten etablieren konnte. Die lokale Protestgeschichte begann in Baden-Württemberg allerdings erst zehn Jahre nach „Stonewall“.

Zum zehnjährigen Jubiläum der Ausschreitungen in New York fand 1979 die erste Demo für „Homobefreiung“ in Stuttgart statt. Auf dem Schlossplatz, genau vor dem Königsbau, versammelten sich am 30. Juni 1979 rund 400 Teilnehmende. Die Demonstration war bei der Stuttgarter Stadtverwaltung offiziell als „Straßentheater“ angemeldet worden, um öffentliches Aufsehen und ein Verbot der Versammlung zu vermeiden. Mit markigen Parolen wurde erstmals in der Landeshauptstadt für die Anerkennung von Homosexuellen demonstriert. Im Fokus der Proteste stand neben der schon bei „Stonewall“ eingeforderten Toleranz vor allem die Änderung der bundesdeutschen Gesetzgebung.

Strafrechtsparagraf gegen Liebe

Neben „Stonewall“ und der dadurch entstandenen internationalen Erinnerungskultur für LSBTTIQ-Themen ist für Süddeutschland noch ein weiterer historischer Aspekt zentral: die Änderung des Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch (StGB). Dieser Paragraf und der Kampf gegen ihn ist zentral für die queere Erinnerungskultur. Diese Erinnerungsgeschichte beginnt dabei bereits im Deutschen Kaiserreich.

Seit 1872 wurden im neu gegründeten Deutschen Reich homosexuelle Handlungen zwischen Männern pauschal unter Strafe gestellt. Es drohten Gefängnisstrafen und die Aberkennung bürgerlicher Rechte. Weibliche Homosexualität wurde hingegen nicht bestraft. Dies erklärt, warum hauptsächlich Männer in der Folgezeit gegen diese Gesetzgebung vorgingen. Im Mai 1897 gründete der Arzt Magnus Hirschfeld (1868–1935) zusammen mit Freunden und Unterstützern das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) in Berlin. Damit sollten wissenschaftliche Forschung und öffentliche Aufklärung zu einer Neubewertung von Homosexualität kommen. Mithilfe von medienwirksamen Aktivitäten, die letztlich politischer Aktivismus waren, wollte man sich Gehör verschaffen. Durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik entstand die weltweit erste bekannte Bewegung für die Rechte von Homosexuellen. In der Weimarer Republik schaffte es Magnus Hirschfeld schließlich, über den Paragrafen im Parlament abstimmen zu lassen. Das Anliegen zur Abschaffung scheiterte nur knapp.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zerschlugen sich alle Bemühungen der ersten Homosexuellenbewegung schlagartig. Der sogenannte „Unzucht-Paragraf“ wurde verschärft und von den neuen Machthabern gnadenlos umgesetzt. Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ und der Gründung der Bundesrepublik änderte sich daran nichts. Die NS-Gesetzgebung galt in Bezug auf den Strafrechtsparagrafen 175 im Wortlaut weiter. Der von den Nationalsozialisten verschärfte Paragraf fand trotz der neuen Grundrechte auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 GG) und der „Gleichberechtigung der Geschlechter“ (Art. 3 GG) weiter Anwendung.

Erst im September 1969 – im Jahr der „Stonewall“-Ausschreitungen – wurde das Strafgesetzbuch geändert. Homosexuelle Handlungen von Männern über 21 Jahren untereinander wurden nun von der Strafverfolgung ausgenommen. Dadurch waren faktisch nur noch homosexuelle Handlungen von jungen Männern strafbar. Dass die Gesetzesänderung ausgerechnet im gleichen Jahr wie „Stonewall“ stattfand, war sicher auch einer zunehmenden gesellschaftlichen Debatte zur sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung zu verdanken.

Als 1979 in Stuttgart zum ersten Mal Menschen für ihre Gleichberechtigung auf die Straße gingen, trafen sowohl die Erinnerung an „Stonewall“ als auch die Erinnerung und der weitere Kampf zur endgültigen Abschaffung des nun abgeschwächt immer noch existierenden § 175 aufeinander. Die Wechselwirkung beider Ereignisse zur gleichen Zeit machte ihr zehnjähriges Jubiläum 1979 zu einem Erinnerungsevent im Zeichen des doppelten Protests. Vor allem ein Bild ging zu diesem Anlass später durch die Presse. Es zeigte eine Mutter, die ein Plakat trug: „Mein Sohn ist schwul! Na und!“ war darauf zu lesen.

Zu einer völligen Abschaffung des § 175 kam es erst 1994. Die entsprechend der Rechtsgrundlage bis dato verurteilten queeren Personen wurden erst 2017 rehabilitiert und entschädigt.

Gegen das Vergessen: AIDS in Baden-Württemberg

Was die Demonstrierenden 1979 noch nicht ahnen konnten: Noch vor der Abschaffung des Paragrafen 175 sollte ein weiterer düsterer Abschnitt der LSBTTIQ-Geschichte liegen – die AIDS-Krise. In Baden-Württemberg erreichte sie 1985 ihren Höhepunkt, als im Land mehr als 560 HIV-Neuinfektionen registriert wurden – knapp 340 davon entstanden durch Sexualkontakte zwischen Männern. Auch in den „Zeitreihen zur Mortalität in Baden-Württemberg“, herausgegeben vom Landesgesundheitsministerium, weist die Sterblichkeit von Männern im Alter zwischen 40 und 45 Jahren von 1980 bis 1994 einen durch HIV-Infektionen bedingten Anstieg auf.

Das Leiden der queeren Community fand 1985 in einer weiteren Demonstration Ausdruck. Denn die Krise wurde von den Medien und der Öffentlichkeit als eine „Schwulen-Pest“ wahrgenommen. Die öffentliche Solidarisierung mit den Opfern war gering. Die Angst vor AIDS förderte die allgemeine Panik vor und die Stigmatisierung von Andersliebenden. Bis heute lässt sich die Verdrängung des Themas am Stuttgarter Beispiel festmachen, denn es existieren – im Gegensatz zur ersten Demo für „Homobefreiung“ – keinerlei verfügbare Internetquellen zur AIDS-Demo. Grundsätzlich schaffte es der Aktivismus in der Mitte der Achtzigerjahre aber schließlich doch, queere Interessen in die Öffentlichkeit zu tragen. AIDS wurde auf Bundesebene zum Thema, als ebenfalls 1985 die Ernennung von Rita Süssmuth zur Bundesgesundheitsministerin erfolgte und sie sich – auch gegen Widerstände in der eigenen Partei – des Problems annahm. Die Gründung von AIDS-Hilfen als Selbsthilfeorganisationen sorgte für eine gesundheits- und sozialpolitische Anerkennung der Community.

In Stuttgart eröffnete die Anlaufstelle für AIDS-Betroffene ebenfalls im Jahr 1985. Bereits 1987 gab es bereits Anlaufstellen unter anderem in Tübingen, Konstanz, Karlsruhe, Pforzheim, Heidelberg, Mannheim und Freiburg. Insgesamt kam es zu einem „Coming Public“ in der deutschen Gesellschaft. Auch Politik, Verwaltung und Behörden wurden nun mit den Interessen queerer Personen konfrontiert und mussten mit ihnen über gemeinsame Unterstützungsprogramme beraten.

Innerhalb der AIDS-Pandemie gipfelte der Erfolg des queeren Aktivismus 1987 in der Tätigkeit von vier offen homosexuellen Männern in der Enquete-Kommission „AIDS“ (1987–1990) des Deutschen Bundestages mit dem Titel Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung. Damit stellten queere Menschen die Hälfte der Sachverständigen in dieser Kommission. Neben der Betroffenheit von HIV-Infizierten war damit vor allem auch das Thema der männlichen Homosexualität in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Doch die AIDS-Pandemie war damit noch nicht vorbei. Noch bis zur Jahrtausendwende galt die Infektion mit HIV als Todesurteil. Erst danach gelang es der Wissenschaft, Medikamente zu entwickeln, die es Infizierten möglich machen, eine durchschnittliche Lebenserwartung zu erreichen. 2019 wurde die sogenannte Präexpositionsprophylaxe (kurz PrEP) als Kassenleistung für queere Menschen aufgenommen und somit das erste Präventivmedikament gegen HIV – wirksam wie ein Kondom – für alle zugänglich. Seitdem gehen die Infektionszahlen stark zurück.

Bis heute wird die Pandemie als das Trauma innerhalb der queeren Community wahrgenommen. Die auf American Studies spezialisierte Wissenschaftlerin Aimee Pozorski prägte hierfür den Begriff des „AIDS-Trauma“ in ihrem 2019 erschienenen Buch AIDS-Trauma and Politics. Die Pandemie sei als eine fortlaufende Reihe von Versäumnissen zu verstehen, die dazu führten, dass die Leiden der Opfer nicht wahrgenommen und anerkannt wurden. Die AIDS-Pandemie war demnach nicht einfach plötzlich aufgetreten, sondern systematisch in Politik, Rechtsprechung und Medien unterrepräsentiert worden, bis sie – ohne nennenswerte Anteilnahme der Öffentlichkeit – zu einer Pandemie wurde. Durch den Kampf um Anerkennung gelang es hier aber erneut, queere Interessen auszudrücken und so für eine Veränderung zu sorgen. Die AIDS-Krise war ein Katalysator für den Kampf um Gleichberechtigung.

Das AIDS-Denkmal und „The Invisible Man“

Zurück vor die Stuttgarter Oper. Das dortige Denkmal an die AIDS-Pandemie in Baden-Württemberg erinnert neben dem Schrecken und Verlust auch an den gemeinsamen Kraftakt innerhalb der Community. Dabei wird das Narrativ eines erfolgreichen Kampfes gegen das Virus vermittelt. Die Nennung berühmter Personen auf dem Denkmal schafft gleichsam einen Bezugsrahmen für die unbeteiligte Öffentlichkeit. Personen wie Freddie Mercury stehen als Identifikationsfigur auch symbolisch für diejenigen, die ganz ohne öffentliche Aufmerksamkeit starben. Erinnern funktioniert hier sowohl über einen Ort als auch über die popkulturelle Erinnerung an eine Person. Gerade die Geschichte Freddie Mercurys zeigt auch, wie sehr Homosexuelle unter der Stigmatisierung zu leiden hatten. Schließlich hatte der Rockstar keine 25 Stunden vor Bekanntwerden seines Todes der Weltöffentlichkeit erklärt, dass er sich bereits Jahre zuvor mit HIV infiziert hatte. Die späte Bekanntgabe der Erkrankung, nötig geworden durch das zunehmend geschwächte Auftreten des Musikers und seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit, verwies selbst noch in den 1990er-Jahren auf die Stigmatisierung des Krankheitsbildes. Auch seine Lebensgefährten Winnie Kirchberger und später Jim Hutton sollten nach ihm ebenfalls durch die Infektion mit HIV und den Ausbruch von AIDS sterben. Mercurys Geschichte ist kein Einzelfall und gibt den vielen Toten in Stuttgart und weltweit ein prominentes Gesicht: Er macht die vielen unsichtbaren HIV-Opfer sichtbar.

Der Erinnerungsort vor der Stuttgarter Oper ist aber nur einer von mehreren, die sich in Baden-Württemberg mit der Geschichte der AIDS-Pandemie auseinandersetzen. Auch in anderen großen Städten im Land gibt es solche Denkmäler. Diese entstanden, wie auch in Stuttgart, zumeist in den 1990er-Jahren und somit nach der Hochphase der Krise. Häufig stehen sie auf Friedhöfen, wo viele queere Menschen in den 1980er- und 1990er-Jahren – viel zu früh – ihre letzte Ruhestätte fanden. Auch in Heidelberg steht auf dem Bergfriedhof seit 2006 ein Denkmal. Hier wurden ebenfalls die Namen der Opfer auf Steinen um das Denkmal herum niedergelegt. Bekanntere Namen sind hier nicht zu finden, dafür aber eine Stele, an der die rote AIDS-Schleife als Erinnerungssymbol angebracht ist.

Lebendige Erinnerungsorte in Stuttgart

Die Kultur des Erinnerns als ein Mittel für Zusammenhalt, das vor allem aus einer Protestgeschichte entstanden ist, erklärt auch, warum manch ein Gedenkort der queeren Community im Land so gar nicht dem entspricht, was man sich typischerweise darunter vorstellt. Die Erwähnung von Freddie Mercury in der Landeshauptstadt hat noch mehr mit Stuttgart zu tun und bietet eine Überleitung zu den untypischen Erinnerungsorten in der Stadt. Wenn es Mercury für Auftritte nach Stuttgart verschlug, zog er danach durch die einschlägigen Clubs und Bars in der Innenstadt. Vor allem sein mehrfacher Aufenthalt im Kings Club ist dokumentiert. Der Club zog bis Februar 2020 viele, auch überregionale Gäste an. 1977 in der Calwer Straße eröffnet und ab 1989 in der Lautenschlager Straße beheimatet, war die Disko der bekannteste Szenetreffpunkt in Baden-Württemberg. Das freie und auch unbeschwerte Feiern ohne Diskriminierung ist noch bis heute ein politischer Akt in der Szene. Razzien und die öffentliche Diskriminierung waren bis in die frühen 2000er-Jahre auch im Kings Club keine Seltenheit. Noch 2019 kam es zu einem Polizeieinsatz, der an die Vorgänge früherer Zeiten erinnerte und deshalb von großen Teilen der Stadtgemeinschaft scharf verurteilt wurde.

Die Betreiberin des Clubs war ab 1989 Laura Halding-Hoppenheit. In Stuttgart besaß sie zeitweise mehrere Szenebars, den Club und ein Café. Nicht nur Freddie Mercury kannte sie persönlich, auch Stars wie der Stuttgarter Modedesigner Harald Glööckler oder der Fernsehjournalist Markus Frank gehörten zu ihren Gästen. Im Kings Club hing Halding-Hoppenheits Porträt über dem Sitzbereich nahe der Tanzfläche. Laura Halding-Hoppenheit wurde im Lauf der Jahre zu einem Idol der lokalen Szene. Sie erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen, darunter 2013 den „PositHIV-Preis“ für die Arbeit in der sexuellen Aufklärung und AIDS-Prävention und 2014 das Bundesverdienstkreuz. Sie ist auch Ehrenmitglied des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland (LSVD). Schließlich widmete ihr Deutschlands bekanntester homosexueller Regisseur Rosa von Praunheim einen Film mit dem Titel Laura – Das Juwel von Stuttgart. Sie selbst wurde dadurch zu einer Figur, mit der sich die Szene identifizieren kann. Auf jeder Pride-Parade in der Landeshauptstadt fährt sie als Beifahrerin auf einem Trike mit und wird von den Zusehenden bejubelt. Sie und ihr Kings Club sind so zu ungewöhnlichen, aber weit über Stuttgart hinaus wichtigen Erinnerungsorten geworden.

Im Winter 2019 kündigte ihr Club eine kurzzeitige Schließung wegen Sanierungsarbeiten an. Nachdem er dann nach dem ersten Lockdown in der Corona-Pandemie ersatzweise an anderer Stelle kurze Zeit wieder geöffnet hatte, ist der Club seit Sommer 2020 dauerhaft geschlossen. Bis heute weist das Schild „Kings Club“ in der Calwer Straße auf die ehemalige Location des Clubs hin. Ein mit Graffiti besprühtes Rolltor ist vor dem ehemaligen Eingang des Clubs heruntergelassen. Die Erinnerung an den Club, die auch durch mündliche Überlieferung innerhalb der Community funktioniert, wird bis heute wachgehalten. Denn mit dem Kings Club ist der einzige inklusive Szeneclub in Stuttgart verschwunden. Bis auf Fetischclubs, die nur einen kleineren Teil der Community ansprechen, ist in der Landeshauptstadt nichts geblieben. Der Großteil der Community muss sich nun mit wenigen einschlägigen Bars und einer unregelmäßig stattfindenden queerfreundlichen Wanderparty an wechselnden Locations zufriedengeben. Diese Unterrepräsentation der queeren Partyszene verstärkt die mythische Bedeutung des Kings Clubs für die lokale Erinnerungskultur.

Das Hotel Silber

Ein weiterer Erinnerungsort in Stuttgart, der weitaus negativere Assoziationen mit der Vergangenheit hervorruft, liegt am Rande des neu gestalteten Dorotheenquartiers im Süden des Stadtzentrums. Das ehemalige Hotel Silber beherbergt seit 2018 eine Erinnerungsstätte. Hier waren während der NS-Zeit die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und nach 1945 die Kriminalpolizei untergebracht. Beiden Organisationen fielen dabei auch queere Personen zum Opfer. Die Geschichte aller verfolgten Gruppen wird in einer Ausstellung im ersten Obergeschoss des Gebäudes erzählt. Einen Überblick dazu gibt dieser Artikel von Tamara Gajić des Instituts für Geschichtsdidaktik und Public History der Universität Tübingen. Gerade homosexuelle Menschen kamen in diesem Gebäude unter zumeist ungeklärten Umständen ums Leben. Die Ausstellung zeigt die Verschleierung dieser Ermordungen anhand gefälschter Sterbeurkunden auf. Dadurch, dass es sich um einen authentischen Ort der Verfolgung handelt und die Erinnerung an die Verbrechen dort durch die Ausstellung wachgehalten wird, funktioniert er ebenfalls als ein lebendiger Erinnerungsort. Er ermöglicht den Besuchenden, der Geschichte von queeren Opfern nahe zu kommen. Durch die Verknüpfung der Leidensgeschichte aller Opfer von Nationalsozialismus und Polizeigewalt trägt er die Erinnerung an queere Geschichte an eine breitere Öffentlichkeit. Das ehemalige Hotel dient damit nicht exklusiv der Community, sondern vielmehr der Gesamtbevölkerung als informativer Erinnerungsort.

Die Weissenburg

Neben konkreten Orten und Personen, die queere Geschichte in Stuttgart erlebbar machen, kümmern sich gerade auch lokale Vereine um die Erinnerungskultur. Vor allem der Verein „Weissenburg e. V. – Zentrum für LSBTTIQ Stuttgart“ betreibt mit dem sogenannten Café Weissenburg in der Weissenburg Straße seit 1996 eine Anlaufstelle für Jung und Alt. Der Verein organisiert unter anderem auch Events, die sich mit der Vergangenheit der Bewegung auseinandersetzen. Sein langes Bestehen und seine Tätigkeit in der Bewahrung queeren Lebens in Stuttgart hat auch ihn zu einem Ort der lebendigen Erinnerung an die Vergangenheit gemacht.

Seine Tätigkeiten sind aber vor allem auch auf die Zukunft gerichtet. So ist der Verein Kooperationspartner des „Regenbogenhauses Stuttgart“. Die Idee hinter dem Projekt ist es, eine zentrale Anlaufstelle für LSBTTIQ-Personen zu schaffen sowie Beratung und Information an einem gemeinsamen Ort anzubieten. Beteiligt am Projekt sind die Stadt Stuttgart, die AIDS-Hilfe Stuttgart e. V., das Projekt „100 % Mensch Stuttgart“, der Lesben- und Schwulenverband Baden-Württemberg, Mission Trans* e. V., Fetz e. V. und die Interessengemeinschaft CSD Stuttgart e. V. Es zeigt sich an solchen Projekten, wie eng alle Institutionen, die durch die Geschichte der queeren Bewegung im Land entstanden sind, heute miteinander verknüpft sind. Die Erinnerung an queere Geschichte hat in Stuttgart nicht nur gefruchtet und öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, sondern auch konkrete Verbesserungen für die Community auf den Weg gebracht. Die Kooperation zwischen öffentlichen Einrichtungen und den LSBTTIQ-Vereinigungen funktioniert dabei über die Grenzen der Hauptstadt hinaus.

Gegenwärtige Erinnerungskultur in Baden-Württemberg

Die Weissenburg und der Kings Club erinnern als safe spaces einer sehr positiven Geschichte. Das Hotel Silber – und auch die betrachteten AIDS-Denkmäler – funktionieren hingegen als Orte der Mahnung und behandeln negative Ereignisse in der queeren Geschichte. Sowohl negative als auch positive Erinnerungsorte zeigen, wie wechselvoll LSBTTIQ-Vergangenheit war. An den verschiedenen Orten zeigt sich, dass queere Erinnerungskultur genauso divers ausgestaltet ist wie die Community selbst. Die diverse erinnerungskulturelle Aufbereitung der LSBTTIQ-Geschichte in Baden-Württemberg hat damit auch zu einer breiteren Akzeptanz der queeren Community beigetragen. Dies zeigt sich an vielen weiteren Projekten im Land. Das Tübinger Stadtmuseum hat mit einer Sonderausstellung 2021/22 „Queer durch Tübingen – LSBTTIQ in Tübingen und Region seit dem Mittelalter bis heute“ damit begonnen, nach den Geschichten von LSBTTIQ-Menschen in den eigenen Archiven zu suchen und ihre Schicksale aufzuarbeiten.

Auch andere Projekte beschäftigen sich mit der Erinnerung an die Geschichte der Szene. Der Aktionsplan „Für Akzeptanz und gleiche Rechte in Baden-Württemberg“ wurde bereits 2016 vorgestellt und soll als breiter Maßnahmenkatalog gegen Diskriminierung wirken. Das Ministerium für Soziales und Integration legte darin unter anderem die Würdigung der LSBTTIQ-Geschichte und die Aufarbeitung der Verfolgung homosexueller Menschen in Baden-Württemberg als Ziel fest. Ein Forschungsprojekt der Universität Stuttgart widmet sich seitdem diesen Themen. Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg veröffentlichte 2018 den Sammelband Späte Aufarbeitung. LSBTTIQ-Lebenswelten im deutschen Südwesten, der sich erstmals im Land mit der Aufarbeitung der LSBTTIQ-Landesgeschichte beschäftigt. Die Historikerin Nina Reusch fasst darin die Erfolge queerer Erinnerungsarbeit zusammen:

„Was bisher größtenteils im Kontext der lesbischen, schwulen und queeren Subkulturen stattfand und auch vorwiegend dort rezipiert wurde, wird aktuell in andere Bereiche getragen und bekommt damit eine größere Reichweite.“

Nina Reusch: Geschichte werden, Geschichte machen; in: Martin Cüppers/Norman Domeier (Hrsg.): LSBTTIQ-Lebenswelten im deutschen Südwesten, Stuttgart 2018, S. 205.

Auch das Online-Projekt Der Liebe wegen möchte queere Erinnerung an Verfolgung und Ausgrenzung in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rufen und widmet sich dazu vor allem lesbischer und schwuler Geschichte. Weitere Initiativen, Gruppen und Vereine aus dem Land sind außerdem über die PlattformNetzwerk LSBTTIQ gesammelt erreichbar.

Die historischen Linien der LSBTTIQ-Bewegung können von den ersten Ausschreitungen bei „Stonewall“ über die Protestkultur gegen Strafrechtsparagrafen und den Kampf um Anerkennung in der AIDS-Pandemie bis hin zu den Pride-Paraden der Gegenwart gezogen werden. Das Gedenken an die Geschichte wurde innerhalb der Community weiter tradiert. Die Entstehung von Gedenkorten ist vor allem ihr zu verdanken. Positive Bezugspunkte der Community in der Vergangenheit dienen als Identifikationsanker. Negative Geschichte dient hingegen als Mahnung – sowohl an die Öffentlichkeit als auch an die Community selbst. Mit Denkmälern an die AIDS-Pandemie, Szeneclubs und Cafés sowie Identifikationspersonen sprengt queeres Erinnern die Konventionen der „klassischen“ Erinnerungskultur. Die Schaffung von mythisch-historischen Bezugspunkten fördert dabei vor allem die jüngere aktivistische Kultur der Szene. Sie lässt Pride-Paraden zu Erinnerungsevents werden, die die Geschichte und die Interessen der Community in die Gesellschaft tragen. Dank der Paraden und der aktiven Geschichtstradierung schaffen es LSBTTIQ-Menschen langsam aber sicher, Einzug in die öffentliche Erinnerungskultur des Landes Baden-Württemberg zu halten.

Weiterführende Infos

Literaturhinweise

Beck, David: HIV und Aids – Geschichte einer Pandemie (= SWR2 Wissen, 01.12.2020).

Bruns, Manfred: Die Schwulenbewegung in Deutschland. Von § 175 über die neuen Schwulengruppen zur Bürgerrechtsbewegung (=LSVD.de).

Cüppers, Martin/ Domeier, Norman (Hrsg.): Späte Aufarbeitung. LSBTTIQ-Lebenswelten im Südwesten. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Bd. 50, Stuttgart 2018. (Link zum Shop)

ÜBERBLICK: ERINNERUNGSORTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Dieser Text enstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Seminar für Zeitgeschichte und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in der sich Studierende im Sommersemester 2022 mit weiteren Erinnerungsorten in Baden-Württemberg beschäftigt haben.
Weitere Texte aus diesem Seminar:

20. Dezember 1992 – Die Stuttgarter Lichterketten gegen fremdenfeindliche Gewalt (Sophia Rilling)

Displaced Persons im deutschen Südwesten (Paul Düring)

Die schwäbische Kehrwoche (Stephanie Raunegger)

Identität und Rivalität – Fußball in Baden-Württemberg (Hendrik Schirner)

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